Die Melodien der Mönche

Hommage

Er ist frei und fromm. Eher evangelisch, aber offen und ehrlich auf der Suche. Er kennt die Sehnsucht und wandert spirituell durch Welten. Dabei begegnet er zunächst anderen Menschen, dann Gott und schließlich auch sich selbst. Ulrich Müller fasst seine geistliche Reise zusammen und macht damit Lust, sich selbst zu bewegen.

Sichtbeton

Münster, Herbst 2010: Ich stöbere durch die Regale meines Lieblings-Buchladens. Eine ganze Etage nur Theologie und Spiritualität! (Mein Traum von Glück: Da einmal über Nacht eingeschlossen werden!) Hinten links stehen die Bildbände. Mir fällt ein Buch auf: „Sommerklöster“. Seltsamer Titel, toller Inhalt. Ich bleibe hängen beim Kapitel über ein Benediktinerkloster im Sauerland, bin hingerissen vom abgebildeten Haus der Stille: Sichtbeton, Holz und Glas. Alles reduziert aufs Wesentliche. Das spricht mich auf Anhieb an. Ein Jahr später mache ich mit meiner Familie ganz in der Nähe Urlaub auf einem Bauernhof am Henne See. Bei einem kurzen Abstecher kann ich die Abtei Königsmünster, und vor allem das Haus der Stille, „in echt“ bewundern, zumindest von außen. Ich drücke mir die Nase an der Scheibe platt und bin beeindruckt von der pragmatischen Eleganz des Hauses. Ein besonderer Ort, denke ich auf der Rückfahrt.

Quadratische Noten

Im Jahr 2012 fühle ich mich stark unter Druck: Drei Kinder, Ehrenamt, beruflicher Stress. Da schenkt mir meine Frau ein Wochenende im Haus der Stille. Sie hatte mitbekommen, dass mir die Architektur sehr gefiel – und dass ich dringend eine Auszeit brauche. Ich fühle mich sofort wohl. Und: Zum ersten Mal erlebe ich in der Abteikirche das deutschsprachige Stundengebet: Die Mönchsgemeinschaft singt mehrmals am Tag Psalmen – in einer kraftvollen deutschen Übersetzung. So etwas kannte ich als evangelischer Christ vorher nicht. Ich sitze immer vorne rechts in der zweiten Reihe – und merke, wie die Psalmen und Hymnen mir guttun, mich neu ausrichten. Manche Melodien bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf. Sie sind so eingängig, so berührend simpel! Simpel – und doch so kompliziert: Warum gibt es vier Notenlinien, nicht wie üblich fünf? Warum sind die Noten quadratisch? Wieder zu Hause besorge ich mir nach und nach die Liederbücher und beginne, abends auf der Bettkante die Komplet (das Abschlussgebet des Tages) summend für mich zu beten. Diese komischen quadratischen Noten – sie sind eine Horizonterweiterung für meinen etwas verkopften Glauben!

Ein oranges Reclam Heft

2015 bin ich zum ersten Mal für ein paar Tage Gast in der Klausur, also im geschützten Wohnbereich der Mönche. Ich wohne Tür an Tür mit ihnen, darf mit ihnen im Refektorium Jonas, der Novizenmeister, gibt mir und einem anderen Gast einen Crashkurs. Ich lerne, dass die Benediktsregel nicht nur für Mönche hilfreich ist, sondern sich an alle richtet, die „Gott suchen“. Dass sie eine alltagstaugliche Spiritualität entwirft. Im Lauf der folgenden Jahre trage ich viele Unterstreichungen und Notizen in das Buch ein. Mich fasziniert, dass die Benediktsregel im Wesentlichen „nur“ die Bibel auf das Leben in Gemeinschaft anwendet. Die Art und Weise, wie sie das tut, regt mich an, hinterfragt mich. Dieses kleine Reclam Heft vermittelt mir biblische Grundhaltungen, die mir in meiner Lebenslage Orientierung geben. Es spricht viel von der Gastfreundschaft, dem rechten Maß, von der „stabilitas“, also vom Dranbleiben, auch wenn es schwierig wird. Es motiviert mich, durch eine klare und feste äußere Tagesstruktur, mich auch innerlich zu sortieren. Es handelt davon, dass der Abt mit den Eigenarten seiner Mönche umzugehen hat, und dass er möglichst geliebt werden soll, nicht gefürchtet. Als Familienvater bin ich ja auch irgendwie in einer ähnlichen Rolle … Das Reclam Heft hilft mir, mich und meine Gewohnheiten zu reflektieren.

 

„Im Lauf der folgenden Jahre trage ich viele Unterstreichungen und Notizen in das Buch ein. Mich fasziniert, dass die Benediktsregel im Wesentlichen ‚nur‘ die Bibel auf das Leben in Gemeinschaft anwendet.“

Ein Moleskine-Notizbuch

2019: Mit einigen anderen Klostergästen und zwei Mönchen sitze ich im Innenhof. Bei Wein und Hefeweizen nehmen Gespräche ihren Lauf, werden tief und persönlich. Immer wieder fallen Sätze, die ich mir vor dem Schlafengehen in mein Notizbuch schreibe, um sie nicht zu vergessen. Einer fragt mich zum Beispiel: „Willst du eigentlich dich groß machen oder Gott?“ Rumms! Diesen Satz und einige Gedanken aus den Impulsen der Mönche halte ich fest, um ihnen weiter nachzugehen. In den folgenden Monaten hole ich das schwarze Moleskine-Notizbuch auf langen Zugfahrten hervor – und denke die Anregungen weiter.

Stimmen im Kopf

August 2021: Eine Woche lang liege ich beinahe bewegungsunfähig auf der Neurologie. Vier, fünf Tage lang kann ich weder aufstehen noch essen, nicht einmal den Kopf heben. Das zieht mir völlig den Boden unter den Füßen weg. Man sagt ja, wenn freikirchliche Christen wie ich eins können, dann frei beten. Aber ich finde keine Worte, es fällt mir so schwer, ein Gebet zu formulieren. Nachts liege ich lange wach. Doch dann fallen mir Fetzen aus dem Stundengebet der Mönche ein. Innerlich singe ich die Zeilen, die sich bei mir eingenistet haben: „Du kennst mich, oh Herr …“ oder „Nur zu Gott hin wird meine Seele still …“. Ich leihe mir die mittlerweile vertrauten Psalmenworte für mein Gebet, höre innerlich die Stimmen der Vorsänger. Komischerweise kommt mir auch ein Hymnus aus dem Totenoffizium in den Sinn: „Wenn wir im Tode leiblich zerfallen, sind wir im Geist schon jenseits der Schwelle ewiger Nacht“. Aber selbst diese Passage tröstet mich. Die Vertonung des Vaterunsers von Michael Hermes, die die Mönche in Meschede jeden Mittag singen, macht mich ruhig im Krankenhausbett. Ich merke, wie tief die Melodien der Mönche mittlerweile in mich eingesickert sind. Ich fühle mich verbunden mit Gott. Anschließend schlafe ich wie ein Baby.

Seit einigen Jahren bin ich als Oblate auch formell mit der Abtei Königsmünster verbunden. Ich bin kein Mönch, auch kein halber. Aber mit den Mönchen in Meschede verbindet mich – neben den Impulsen aus der Benediktsregel und der Tatsache, dass wir unseren Glauben nicht alleine leben, sondern in Gemeinschaft – die Liebe zu den Psalmengesängen. Sie bedeuten mir viel. Die Spiritualität der Mönche ist zu einem Teil meines Lebens geworden.

Ulrich Müller ist verheiratet, Vater von drei Kindern, lebt in der kleinen Großstadt Gütersloh und schreibt Bibelkommentare für Menschen, die eigentlich keine lesen. Zuletzt erschien sein Buch „Herzerweiterung für den Jona in mir“ im Neufeld Verlag. ulrich-mueller.com

Bestelle kostenfrei die Printausgabe!

Bestelle die aktuelle Ausgabe und erhalte 4x/Jahr das Magazin NEUES LEBEN. Randvoll mit gutem, christlichem Rat für den Alltag, verständlich und anwendbar.

Bitte schickt mir NEUES LEBEN!
Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst du dich mit der Speicherung und Verarbeitung deiner Daten durch diese Website einverstanden.