Kloster im Kopf

Kontemplation

Auf den einen üben sie ungeahnten Reiz aus, für den anderen symbolisieren sie nahezu finsteres Mittelalter. Und jeder findet für seine Position gute Gründe und Erklärungen. Wenn sich aber ein positiv unorthodoxer Freikirchler zum straff sortierten Mönchischen hingezogen fühlt, lohnt es sich aufzuhorchen: Unterwegs mit Ulrich Müller.

„Wie geht es dir?“ fragte mich vor kurzem ein Freund. Und ich hatte tatsächlich, was selten vorkommt, auf Anhieb keine passende Antwort parat. In manchen Phasen geht es einfach nur darum, den Kopf über Wasser zu halten und zu funktionieren. Da bleibt für Selbstreflexion einfach keine Zeit. „Äh, … ich glaube, ganz gut“, stammelte ich schließlich etwas unsicher – nach einer vermutlich viel zu langen Pause. Aber schlagartig war mir klar: „Es wird wirklich Zeit für meinen nächsten Klosteraufenthalt!“   

Der Geist ist willig …

Ich sitze im Regional-Express 57 Richtung Dortmund, als mir diese Szene wieder einfällt. Ich komme gerade von einem verlängerten Wochenende in der Benediktinerabtei in Meschede. Nun befinde ich mich wieder auf der Heimreise. Morgen schon geht der normale Alltag weiter. Freienohl, Oeventrop und Arnsberg – die Strecke durch das Sauerland kenne ich mittlerweile recht gut, in den letzten Jahren war ich oft für ein paar Tage Gast in diesem Kloster. Wieder merke ich: Das hat auch diesmal richtig gutgetan. Ich habe viel Schlaf nachgeholt, lange im Abteiladen gestöbert, viel gelesen und tolle Gespräche geführt. Vor allem habe ich die Gottesdienste genossen. Vier bis fünf Gebetszeiten feiert der Konvent jeden Tag. Ich bin bei meinen Aufenthalten jedes Mal dabei. Abgesehen von der Morgenhore um 6.30 Uhr; der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Ich sitze gerne in der Abteikirche auf meinem Stammplatz vorne rechts in der zweiten Reihe hinter dem Chorgestühl der Mönche, höre auf die Lesungen und singe leise das Stundengebet mit. 

Aber jetzt auf der Heimfahrt frage ich mich zwischen Neheim-Hüsten und Wickede auch: was nehme ich eigentlich mit aus diesem Wochenende, was kann ich aus der wohltuenden Kloster-Auszeit in den Alltag retten? Es gibt einiges, das ich gerne in mein Leben integrieren würde. Ich beneide zum Beispiel die Mönche darum, dass sie sich morgens nie Gedanken darüber machen müssen, was sie anziehen sollen. Sie tragen einfach Tag für Tag den immer gleichen schwarzen Habit. So ein Standard-Look hat tatsächlich große Vorteile. Freche Zungen behaupten allerdings, ich würde ja auch nur zwischen einem schwarzen Kapuzenpullover und einem braunen Cord-Sakko wechseln. 

In der Stille klappert das Besteck

Was mich auch immer wieder beeindruckt: dass im Refektorium, dem Speisesaal der Mönche, das Essen schweigend eingenommen wird. Wer das Besteckklappern ein wenig ausblendet, kann einer anregenden Tischlesung lauschen. Ich habe tatsächlich einmal versucht, das Schweigen am Tisch auch in meiner Familie einzuführen, bin aber natürlich grandios gescheitert. Ich habe drei Kinder mit enormen Redebedarf. Wer genau hinschaut, entdeckt bei mir zu Hause bereits einige Bezüge zur Abtei Königsmünster. Wir nutzen als Familie zum Beispiel bunte Trinkbecher, die Bruder Isidor in der klostereigenen Töpferei geformt und gebrannt hat. Auf meinem Schreibtisch steht ein 13 cm großes Christuskreuz aus der Schmiede von Pater Abraham. In vielen meiner Bücher stecken als Lesezeichen Ausrisse mit Bildern vom Klostergelände aus Rundbriefen oder Jahresberichten. 

Die wichtigste Verbindung zwischen der Abtei und meinem Zuhause ist aber ein kleines blaues Buch auf meinem Nachttisch: Ein schon nicht mehr ganz frisch aussehendes „Benediktinisches Brevier“. Es enthält die wichtigsten Texte und Melodien der einstimmigen gregorianischen Gesänge, die die Mönche nach einem festen Rhythmus mehrmals pro Tag anstimmen. Dem Gottesdienst sei nichts vorzuziehen, mahnt die Benediktsregel, nach der sich Mönche seit fast 1500 Jahren richten.

Ich schaffe es natürlich nicht, wie die Benediktiner auf dem Klosterberg vier- bis fünfmal pro Tag die aktuelle Tätigkeit zu unterbrechen, alles stehen und liegen zu lassen, um in der Abteikirche innezuhalten. Im Alltag geht bei mir vieles unter. Das Gefühl für Gottes Gegenwart wird oft überlagert und erstickt durch Aktivitäten, Termine und Alltagssorgen. Und manchmal verliere ich tatsächlich sogar das Gefühl dafür, wie es mir eigentlich geht. Aber ich habe mittlerweile in meinem Tagesablauf zumindest zwei feste Rituale etabliert, an denen ich festhalte. 

Morgens lese ich in einer „Stillen Zeit“, angeleitet durch den Abreißkalender „Wort für heute“, täglich einen kurzen Bibelabschnitt mit einer knappen Erläuterung. Im Verlauf von acht Jahren führt mich der Leseplan in überschaubaren Leseportionen durch alle Bücher der Bibel. So kann ich darauf hören, was Menschen im Lauf der Jahrtausende mit Gott erlebt haben, wie Jesus in seinen wenigen Jahren als Mensch auf der Erde Gott erfahrbar gemacht hat und wie die ersten Gemeinden ihren Glauben gestalteten. Und abends tauche ich in die mir immer vertrauter werdenden Psalmengesänge der Mönche ein. Fast jeden Abend nehme ich, bevor ich das Licht endgültig ausschalte, das „Benediktinische Brevier“ zur Hand, schlage die Komplet, das Nachtgebet des entsprechenden Wochentages auf. Und dann singe ich „innerlich“ genau den Psalmtext, den auch die Mescheder Mönche am Abend gemeinschaftlich beten. Wie sie bete ich Montagabend: „Herr, schenke uns eine ruhige Nacht und erholsamen Schlaf. Was wir heute durch Wort und Werk an Gutem ausgesät haben, das lass Wurzeln schlagen und wachsen und heranreifen für die ewige Ernte“. Samstagabends gehe ich vor dem Schlafen Psalm 16 durch: „Er steht mir zur Rechten, ich werde nicht wanken. Darum freut sich mein Herz, meine Seele ist fröhlich. Sorglos ruht auch mein Leib.“

Die Pfeiler meines Pensums

Und es gibt offensichtlich nicht nur Kopf-Kino, sondern auch ein Kopf-Kloster: In Gedanken höre ich dann oft beim Lesen, eingekuschelt in meine Bettdecke, die Stimmen von Pater Erasmus und Bruder Elmar, die in der Abtei den meditativen Wechselgesang anleiten. Manchmal meine ich sogar, Bruder Sebastian an der Orgel zu hören, obwohl das Nachtgebet in Wirklichkeit immer ganz reduziert a capella gesungen wird. Die Freiheit nehme ich mir … 

Diese kleinen Auszeiten im Alltag, morgens und abends, sind für mich die wertvollsten spirituellen Momente des Tages. Sie helfen mir, Eindrücke und Gedanken zu ordnen, mir Gottes Gegenwart bewusst zu machen und einfach einen Augenblick mit Gott zu verbringen. Ich empfinde diese Zeiten als Stützen, als Pfeiler meines Pensums. Manchmal tauchen sogar tagsüber zwischendurch wie aus dem Nichts einzelne Elemente des klösterlichen Tagzeitengebets in mir auf. Ich bin ganz schlecht darin, Bibelverse auswendig zu lernen. Aber die eingängigen Melodien aus dem Stundengebet der Benediktiner – die bleiben hängen. Die sacken im Lauf der Zeit ins Gedächtnis. Und mit ihnen die Bibelstellen, die sie transportieren.

Die sogenannten Antiphonen, die vor und nach jedem Psalm gesungen werden, fassen in ein, zwei Sätzen eine Kernaussage des jeweiligen Textes prägnant zusammen und rahmen ihn dadurch ein. Viele dieser kleinen Melodien sind inzwischen fest verankert in meinem Kopf und in meinem Herzen. Wenn mir etwa die Zeilen „Welche Freude, da man mir sagte: Wir ziehen zum Haus des Herrn“ in den Sinn kommen, ist mir gleich Psalm 122 präsent, ein Lied, in dem die Vorfreude auf die gottesdienstliche Begegnung mit Gott aus allen Noten quillt. Und schon begleiten mich gute Gedanken auf meinem Weg.

Wenn sich mitten in der Hektik des Tages, vielleicht kurz nach einem konfliktreichen Termin, in mir Unruhe breit macht, rufe ich mir hin und wieder einen Hymnus aus der Mittagshore vom Mittwoch ins Gedächtnis: „Die Glut des Mittags treibt uns um, die Stunden eilen wie im Flug. Du Gott, vor dem die Zeiten steh‘n, lass uns ein wenig bei dir ruh‘n. / Wir atmen fiebrig und gehetzt, der Streit flammt auf, das rasche Wort. In deiner Nähe, starker Gott, ist Kühlung, Frieden und Geduld.“ Ein kleiner Moment der Besinnung, nicht mehr. Aber immerhin.

 

„Für mich ist es entscheidend, dass ich mich hineinbegeben kann in das geistliche Kraftfeld der Abtei, mich einschwingen kann in den festen Rhythmus der Stundengebete.“

Die Vertonung des Vaterunsers durch den ehemaligen Kantor der Abtei, Pater Michael, ist mir ebenfalls sehr ans Herz 
gewachsen. Mir hilft sie sehr, dieses große Gebet zu verinnerlichen und präsent zu haben. Beim ersten Besuch erschien mir die Melodie sofort seltsam vertraut – später erst fiel mir wieder ein: Die Toten Hosen hatten genau dieses Lied in den 90er Jahren tatsächlich auf einer CD verewigt; Campino, der Sänger, hatte es auch als Klostergast kennengelernt.

Ich könnt´ ja auch zum Wellness gehn

Ich schaue wieder aus dem Fenster, der Zug lässt gerade den Bahnhof Fröndenberg hinter sich. Gleich, im Dortmunder Hauptbahnhof, muss ich umsteigen. Ich bin dankbar für die Auszeit vom Alltag, die ich in den letzten Tagen in der Abtei hatte. Wenn ich mich für ein paar Tage ins Kloster zurückziehe, habe ich immer ein Moleskine-Notizbuch dabei für Ideen und Überlegungen, die mir in der Zeit kommen. Wenn Pater Jonas dem Oblatenkreis die benediktinische Spiritualität nahebringt, notiere ich mir oft Stichworte, denen ich weiter nachgehen will. Wenn ich zur Ruhe komme, sortieren sich die Gedanken. So kann das, was sonst leicht untergeht, wieder nach vorne rücken. 

Aber der entscheidende Punkt ist für mich nicht nur, dass ich aus dem Alltag rauskomme – dann wäre ein ruhiges Wellness-Hotel genauso gut. Für mich ist es entscheidend, dass ich mich hineinbegeben kann in das geistliche Kraftfeld der Abtei, mich einschwingen kann in den festen Rhythmus der Stundengebete. So kann der, der im Fokus stehen soll, wieder den gebührenden Stellenwert erhalten: Ich kann mich neu ausrichten auf Jesus Christus. 

Ich kehre nach Hause zurück mit neuen Impulsen – und mit dem guten Gefühl, dass ich nach der „Auffrischung“ in der Abtei den Grundansatz der Unterbrechungen, der Auszeiten im Alltag im Kleinen zu Hause weiterführen kann. Ich bin kein Mönch, auch kein halber. Aber wenn ich die Bibel aufschlage, das Brevier in die Hand nehme oder Melodien aus dem „Benediktinischen Antiphonale“ vor mich hin summe, fühle ich mich verbunden mit den Mescheder Mönchen: im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort, im gemeinsamen Gebet. Es ist schön, gemeinsam mit ihnen auf dem Weg zu sein. Doch, mir geht es gut.

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