Wie konnte Gott Mensch werden, Herr Professor?
von Dr. James I. Packer
Wunder – unmöglich? Die Jungfrauengeburt – ein Witz? „Unsere eigentliche Skepsis gilt gar nicht den Wundern oder der Auferstehung“, sagt Professor James I. Packer, „sondern der Behauptung, dass Gott in einem Baby in diese Welt kam.“ Warum er die Menschwerdung Gottes für das wichtigste Ereignis der Geschichte hält und was sie in unserem Alltag auslösen kann, erklärt der britische Theologe im folgenden Interview.
Dr. Packer, immer mehr Menschen kennen die Bedeutung von Weihnachten nicht mehr. Warum ist Weihnachten für Sie persönlich wichtig?
Dr. James I. Packer: Kurz gesagt: weil Gott zu uns kam. Dass er in Jesus Christus Mensch wurde, ist das wundervollste und größte Ereignis seit der Erschaffung dieser Erde. Die Weihnachtsbotschaft ruft uns zu: Es gibt noch Hoffnung für unsere heruntergekommene, kranke Welt.
Dass Gott als Baby in die Menschheitsgeschichte eingetreten ist, ist aber für viele nur schwer vorstellbar.
Das stimmt. Ich merke das auch immer wieder. Für viele Menschen besteht die eigentliche Schwierigkeit mit dem christlichen Glauben gar nicht unbedingt in der Auferstehung oder den anderen Wundern. Die tiefste Skepsis gilt den Berichten über Weihnachten: Der allmächtige Schöpfer wird ein Kind in Windeln? Ein Kind, das gestillt werden muss? Das nicht laufen kann und sprechen lernen muss wie jeder andere Mensch?
Die Menschwerdung Gottes ist in der Tat das größte Geheimnis, mit dem uns die Bibel konfrontiert. Aber wenn wir an den Punkt kommen, wo wir diesen Punkt als Tatsache akzeptieren können, lösen sich plötzlich auch alle anderen intellektuellen Zweifel auf.
Christus ist der Sohn Gottes. Die Vorstellung von „Göttersöhnen“ ist ja auch aus der antiken Mythologie bekannt. Was ist an dem Gedanken also neu?
Nehmen wir zum Beispiel Herkules: Der Sage nach hatte er einen „Gott“ – in diesem Falle Zeus – zum Vater, dazu kam eine menschliche Mutter. Dennoch stellten die Griechen ihn sich nicht als jemanden vor, der eine göttliche Natur besitzen würde. Herkules war übermenschlich, aber kein Gott. Die biblische Aussage über die Menschwerdung des Schöpfers beinhaltet etwas vollkommen anderes. Sie besagt, dass eine der drei Personen, die Gott „bilden“, nämlich Gott, der Sohn, in Gestalt eines Babys aus Fleisch und Blut in diese Welt kam. Und dass er dabei dennoch derselbe Sohn blieb, der er bereits im Himmel gewesen war – nur eben in menschlicher Gestalt. Jesus lässt keinen Zweifel daran aufkommen, wer er ist: Gott selbst. So sagte er über seine Beziehung zum himmlischen Vater, dass sie in ihrer Form einzigartig sei und dass niemand außer ihm sie besitze. Dazu behauptete er, er sei dem himmlischen Vater in Kraft und Weisheit gleich; und ihm gebühre die gleiche Anbetung. All das stellt die christliche Lehre der Menschwerdung Gottes auf einen ganz anderen Boden als irgendeine antike Vorstellung von göttlicher „Vaterschaft“.
„Die Menschwerdung Gottes steht auf einem ganz anderen Boden als irgendeine antike Vorstellung von ,göttlicher Vaterschaft‘.“
Was bedeutet es denn für uns, dass Gott Mensch wurde?
Zunächst einmal bekommen wir so eine ganz entscheidende Information über Gott: Die Menschwerdung Gottes macht uns klar, dass Gott aus mehr als einer Person besteht und doch gleichzeitig „einer“ ist. Schon zu Beginn der Bibel stellt Gott sich in der Mehrzahl vor (z. B. 1. Mose 1,26). Und auch die Aussagen Jesu und weitere Texte des Neuen Testaments sprechen eindeutig von einem Gott, der sich in drei Personen darstellt: als der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Das ist eine weitaus entscheidendere Aussage, als wir auf den ersten Blick annehmen. Stellen wir uns vor, Gott wäre nur eine Person – schon stünden wir vor einem tiefgreifenden Problem: So hätte zum Beispiel die Aussage, dass Gott Liebe ist (1. Johannes 4,16), überhaupt keine Grundlage. Sie basiert nämlich auf der Tatsache, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist in einer von Liebe geprägten Beziehung zueinander stehen. Und weil Liebe die treibende Kraft in dieser Beziehung ist, ehrt der Sohn den Vater, der Vater ehrt den Sohn, der Sohn ehrt den Heiligen Geist und der Heilige Geist wiederum ehrt beide. Damit hat Gott selbst den Standard für das gesetzt, was wahre Liebe ausmacht, nämlich einen anderen zu ehren und zu achten. Wir wüssten nicht, was Liebe ist, wenn Gott sie uns nicht „vorleben“ würde.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist folgender: Indem Gott Mensch wird, lebt er uns selbst vor, wie vollkommenes Menschsein aussieht. Jesus Christus lebte ein Leben in Freiheit und Erfüllung, indem er es in absoluter Hingabe an den guten Willen des himmlischen Vaters lebte. Zugegeben: In unserer heutigen Gesellschaft ist der Gedanke, dass in der Hingabe an jemanden Freiheit liegen soll, vollkommen absurd. Paradox nahezu – für manch einen klingt das wirklich ziemlich verrückt.
Jesus Christus war also Gott und Mensch in einer Person. Können Sie das genauer erklären?
Ich will es versuchen, aber eins steht schon fest: Egal, wie geschickt wir es zu erklären versuchen und wie nah wir diesem Wunder kommen mögen – dass Gott Mensch wurde, bleibt immer ein Stück Geheimnis. Die frühe Kirche hat im Jahr 451 einen Lehrsatz formuliert, der die Menschwerdung folgendermaßen umschreibt: Die Natur Gottes und die Natur des Menschen waren in Jesus Christus „ungetrennt, ungesondert, unvermischt und unverwandelt“.
Interessant finde ich übrigens, dass das Neue Testament an keiner Stelle den Versuch startet, uns diese Tatsache näher zu erläutern. Dass Jesus Mensch und Gott zugleich war, wird uns schlicht als eine göttliche Realität mitgeteilt, die wir im Glauben annehmen oder aber eben ablehnen können. Und ich habe den Eindruck, dass es Gott eher darum geht, dass wir diesem Geheimnis als Tatsache vertrauen lernen, als dass wir die „Methode“ und das „Wie“ dahinter vollkommen verstehen. Die biblischen Aussagen lassen jedenfalls keinen Zweifel zu, dass Jesus Christus einhundertprozentig Mensch und gleichzeitig einhundertprozentig Gott war.
Musste Gott etwa erst Mensch werden, um uns und unsere Lebensumstände besser zu verstehen?
Ich bin sicher, dass Gott zu jeder Zeit wusste, wie seine Menschen „ticken“ und was sie bewegt. Meiner Meinung nach musste Gott nicht erst lernen, was es heißt, Mensch zu sein. Der Gedanke, der sich dahinter verbirgt, ist wohl vielmehr der, dass wir uns nun sicher sein können, dass Gott uns auch wirklich versteht. Aber auf jeden Fall hat er nun das menschliche Leid ganz konkret auch auf unserer Ebene durchlebt.
Und was hat es für Gott selbst bedeutet, Mensch zu werden?
Sicher kann sich niemand wirklich vorstellen, wie sich das für ihn angefühlt haben muss. In der Bibel im Brief an die Philipper lesen wir im 2. Kapitel, dass Jesus Christus „göttliche Gestalt“ hatte, was bedeutet, dass er Gott in Wesen und Natur gleich war. Doch statt sich an seine Herrlichkeit zu klammern, die er im Himmel besaß, ließ er sie los. Der Erschaffer und Herr des Universums demütigte sich, wurde ganz klein und wurde ein Mensch, um uns nahe kommen zu können. Als Gott-Sohn fand er stets seine Freude und Erfüllung darin, den Willen des Gott-Vaters zu tun. Und ganz besonders da, wo es um unsere Erlösung ging. Einmal sagte Jesus: „Der Sohn ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben für viele“ (Markus 10,45). Ohne Frage war der Tod durch die Kreuzigung der tiefste Punkt der Entwürdigung, der Scham und der Unbedeutsamkeit, den die damalige Kultur kannte. Und doch wurde genau dieses Kreuz zum Brennpunkt unserer Erlösung. In Jesus Christus stieg Gott ganz tief zu uns herunter, um uns zu befreien.
„Ich glaube, dass Gott eine weniger ,kostspielige‘ Alternative gewählt hätte, wenn es sie gegeben hätte.“
Gerade mit diesem Aspekt des christlichen Glaubens haben viele so ihre Probleme. Wenn Gott allmächtig ist, hätte er uns da nicht auch erlösen können, ohne ans Kreuz zu gehen?
Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass es der einzige Weg war, auf dem Gott uns retten konnte. Ganz davon abgesehen glaube ich persönlich, dass Gott eine weniger „kostspielige“ Alternative gewählt hätte, wenn es sie gegeben hätte. Ein Gedanke, den wir der Frage nach dem Kreuz voranstellen müssen, ist folgender: Durch die gesamte Bibel hindurch offenbart Gott sich als der Heilige, der Vollkommene. Heiligkeit umschließt aber eben auch vollkommene Gerechtigkeit, die nichts Ungerechtes, Unheilvolles und Zerstörerisches dulden kann. Gerechtigkeit wäre nicht mehr gerecht, wenn sie es täte. Also muss Gott uns Unheilstifter zur Verantwortung ziehen. Denn Gerechtigkeit fordert Wiedergutmachung für geschehenes Unrecht. Im Römerbrief heißt es in Kapitel 8, Vers 32: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle in den Tod gegeben.“
Dies ist eine unglaubliche Aussage über die Liebe Gottes! Die Worte „nicht verschont“ sollen uns deutlich machen, dass er uns auch alles andere gegeben hätte – doch alles andere war nicht genug. Das größte Geschenk, als tiefsten Ausdruck seiner Liebe, machte er uns damit, dass sein Sohn unsere Sünden wegnahm, indem er unsere Strafe auf sich nahm.
Sünde, Gerechtigkeit, Versöhnung, neues Leben – können Sie erklären, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt?
Gottes Plan war es, dass der Erlöser unter den gleichen Bedingungen leben musste wie die Menschen. Da, wo einst der erste Mensch Adam versagt hatte, sollte er es richtig machen. Darum nennt die Bibel Jesus auch den „letzten Adam“. Dazu erfordert die Vollkommenheit des himmlischen Vaters, dass Vergeltung von Schuld nur von einer schuldlosen und ebenso vollkommenen dritten Partei erwirkt werden konnte. Jesus Christus, der ein Leben frei von jeglicher Schuld geführt hatte, war diese Person. Weil er selbst schuldlos war, konnte er mit seiner Lebenshingabe am Kreuz die Basis für Vergebung und ein neues Leben für die Menschen schaffen. Ohne diese Versöhnungstat wären wir für Gott verloren. Darum sollte niemand die Bedeutung des Kreuzestodes und der Auferstehung schmälern.
Aber das ist nicht alles. Durch seinen Tod hat Jesus nicht nur Vergebung erwirkt, sondern die Grundlage für Gemeinschaft zwischen sich und den Menschen gelegt. Das Kreuz ist nicht nur Ort der Versöhnung, sondern es wird quasi zum „Eintrittstor“ in diese lebensspendende Gemeinschaft mit Gott selbst – und das für jeden, der Jesus als seinem Erlöser vertraut.
Wenn ich in diese Gemeinschaft eintrete, wird etwas in mir ganz neu. Die Bibel benutzt dafür ein Bild: Sie spricht davon, dass wir ein „neues Herz“ bekommen. Mit einem Mal ist der Heilige Geist die treibende Kraft in uns und nicht länger unser Ego. Der Glaubende erlebt, dass es plötzlich sein tiefstes Verlangen ist, Gott zu lieben, zu ehren, zu verherrlichen und ihm zu dienen – genauso wie einst Jesus den himmlischen Vater ehren wollte. Der Heilige Geist will in einem Menschen, der mit Gott lebt, mehr und mehr den Charakter Jesu ausbilden.
Wenn dem so ist – warum sieht man dann im Leben seiner Nachfolger manchmal so wenig davon?
Weil das alles nicht sofort, sondern in einem Prozess geschieht. Der Mensch wird zwar im Augenblick seiner Bekehrung innerlich vollkommen erneuert, aber es braucht seine Zeit, bis sich diese Tatsache auch äußerlich zeigt. Und abgeschlossen wird dieser Prozess erst dann sein, wenn wir im Himmel sind.
Bis zu diesem Tag aber steht ein Nachfolger Jesu im Kampf gegen die Sünde, denn die ist immer noch ein Teil seiner menschlichen Natur. Sünde ist eine gewaltige Kraft, die um unser Herz kämpft. Und obwohl sie durch Jesus in unserem Leben entthront wurde, wurde sie noch nicht gänzlich zerstört. Sie ist immer noch da und bekämpft uns und Gott, indem sie uns von Gott ablenken will. Von Zeit zu Zeit schafft sie es, uns aus der Bahn zu werfen, damit wir Gott nicht folgen. Das kann viele Formen annehmen, und grundsätzlich kann man sagen, dass jeder Mangel an Hingabe gegenüber Gottes gutem Willen für unser Leben Sünde ist.
In diesem Sinne werden wir immer wieder schuldig vor Gott, selbst wenn wir von ganzem Herzen versuchen, zu seiner Ehre zu leben. Aus diesem Grund müssen wir auch die Bitte Jesu im Vaterunser ernst nehmen: „Und vergib uns unsere Schuld ...“ Jeden Tag tut auch ein Christ Dinge oder denkt Gedanken, die vergeben werden müssen.
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Und wie sieht Christsein ganz praktisch im Alltag aus?
Die Charaktereigenschaften Jesu sollten uns mehr und mehr prägen. Um es mit einem Bild zu sagen: Es geht darum, in all den verschiedenen Beziehungen und Lebensfeldern, in denen wir stehen, den Geist Jesu aus uns heraus an die Oberfläche zu arbeiten. Es geht um das, was Paulus in Galater 5,22 als „Frucht des Geistes Gottes“ bezeichnete: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung. All diese Eigenschaften sehen wir in Jesus Christus personifiziert. Wir sollten leben, wie er gelebt hat, tun, was er getan hat. Wir dürfen mehr und mehr lieben lernen, wir dürfen dienen und unser Leben demütig an andere Menschen hingeben. Und Freude und Zufriedenheit in dem Wissen finden, dass dies der gute Wille des himmlischen Vaters für uns ist.
Klingt gut, aber nicht einfach.
Ganz klar: Auch wenn der Heilige Geist in uns lebt, sind wir als Person gefragt. Wir brauchen gewisse „geistliche Übungen“ wie Gebet, Bibellese, Fasten oder regelmäßige Selbstprüfung, um den Charakter Jesu in uns auszubilden. Gott wirkt das Gute in uns, aber er braucht auch unsere Mitarbeit. Wir müssen trainieren, und man trainiert etwas, indem man sich immer wieder auf eine bestimmte Weise mit einer Sache auseinandersetzt.
Beim Tennis übe ich zum Beispiel einen bestimmten Schlag so lange, bis ich ihn nicht mehr falsch mache. Die Bewegung wird fast ein Teil meiner selbst. Es ist die Aufgabe des Trainers, mich anzufeuern, mich zu korrigieren und an den Punkt zu bringen, wo ich es nicht mehr falsch mache. Ich habe in Predigten den Heiligen Geist oft als unseren Trainer beschrieben. Er sagt uns: „Sieh auf Christus, sieh, wie er es macht“, und er prüft mit uns anhand des Wortes Gottes, was wir tun, ob wir es richtig tun und ob unsere Motive stimmen.
Das christliche Leben erscheint vielen nicht attraktiv, weil es eben auch nach Verzicht und Arbeit klingt. Die Wahrheit aber ist, dass der Reichtum, den Jesus gibt, mit nichts vergleichbar ist. Das Leben mit Christus ist enorm lebenswert, enorm voller Freude, enorm erfüllend. Kein Leben kann das Leben eines Christen an Qualität übertreffen.
Das Interview führte Steffen Schulte.
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