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Das Licht in meinem Herzen

von Helen Lescheid

Heiligabend 1944 tobte der Zweite Weltkrieg in Europa. Meine Mutter war mit vier kleinen Kindern während des Rückzugs der deutschen Soldaten aus der Ukraine geflohen; mein Vater, der an der russischen Front gekämpft hatte, galt als vermisst.

Nun lebten wir als Flüchtlinge in einem polnischen Dorf in einem Zwei-Zimmer-Verschlag. Doch immer noch war die Front nur rund fünfzig Kilometer von uns entfernt. Regelmäßige Luftangriffe ließen uns Schutz suchen. Explosionen erschütterten die Fenster. Laster brachten regelmäßig Verwundete und Tote ins Dorf. Heuwagen, vollgepackt mit Flüchtlingen, ratterten Richtung Westen. Bomber und Panzer donnerten im Osten.

Ein Fest im Nachbardorf
Und dann kam Heiligabend. Zwei Frauen aus einem Nachbarort hatten eine Weihnachtsfeier vorbereitet und uns eingeladen. Und weil meine Mutter uns eine Freude machen wollte, überwand sie all ihre Angst und sagte zu: Wir würden unter den Gästen sein. Sie wies meine Schwester und mich an, uns warm anzuziehen, um gegen die Kälte gerüstet zu sein. „Heute Abend gehen wir auf ein Fest“, sagte sie. Ich war acht Jahre alt und war mir keiner Gefahr bewusst – für mich gab es nur begeistertes Staunen!

In Eile zogen meine Schwester Agnes und ich uns an. Wenn Mama sich doch nur ein bisschen beeilen würde! Ein einfacher Docht flackerte in einer Öllampe. Es war die einzige Lichtquelle, die wir besaßen. Schwer nur konnten wir ihre Umrisse erkennen, als Mama unseren vierjährigen Bruder und unsere fast zweijährige Schwester anzog. Endlich zog auch Mama ihren Wintermantel und warme Schuhe an. Mit einem leisen Hauch blies sie die Öllampe aus. Jetzt war es stockdunkel.

„Mach die Tür auf, Lena!“, rief sie. Wir traten in den knirschenden Schnee. Ein Halbmond hing über dem großen Haus der Gutsbesitzer – freundliche Menschen, die uns Flüchtlinge gut behandelten. Mama hob Katie hoch und nahm sie auf den Rücken: Sie würde Katie die fünf Kilometer einfach Huckepack tragen. „Halte dich an meinem Mantelkragen fest“, keuchte sie, drehte sich dann zu uns Mädchen und sagte: „Und ihr nehmt Fred an die Hand.“ Meine Schwester und ich willigten ein. Wir hatten schon oft auf unseren kleinen Bruder aufgepasst, wenn Mama in den großen Scheunen Kartoffeln gesammelt oder andere Arbeiten für die Gutsbesitzer erledigt hatte.

Im Dunkeln durch den Schnee
An der Straße angekommen, hielten wir an. Obwohl ich die Umgebung von meinem Schul-weg her kannte, konnte ich nur schwer die Häuser auf der anderen Straßenseite erkennen. Straßenlaternen waren nicht mehr erlaubt, und die Fenster waren so dicht verhangen, dass kein Lichtstrahl nach außen drang. Einen Moment lang zögerte meine Mutter, dann sagte sie: „Kommt, wir nehmen eine Abkürzung und gehen übers Feld.“ Der Schnee krachte unter den vier Paar Füßen, die Löcher in die weiße Decke traten, die das ganze Feld bedeckte. Sterne leuchteten an dem dunklen Himmel über uns und ein blutroter Schein trübte den Horizont im Osten. Von Zeit zu Zeit warfen Explosionen Feuerzungen an den Nachthimmel.

Meine Mutter hielt an und setzte Katie ab. Ihre Arme schmerzten. „Mädchen, sagt mir eure Gedichte auf“, sagte sie; ihre Stimme klang zittrig. Also sagten meine Schwester und ich die Weihnachtsgedichte und Verse auf, die wir auswendig gelernt hatten. Unser Atem machte dabei weiße Wölkchen in die kalte Nachtluft. Als wir aufhören wollten, sagte Mama: „Sagt es laut und deutlich. Ich will kein Gemurmel hören!“

Endlich erreichten wir das Haus unserer Freunde. Die Tür ging auf – und ich glaubte, ich wäre im Himmel. Da waren Lichter – ein ganzer Raum voller Lichter! Kerzenlicht schimmerte von kleinen Weihnachtsbäumen und spiegelte sich in den Augen fröhlicher Kinder. Dicht verhangene Fenster hielten das Licht drinnen – und wir genossen es. Rote Papierschleifen schmückten den Baum und kleine Papierengel lächelten auf uns herab. Wir zwängten uns zwischen die Frauen und Kinder auf den Fußboden. Bald war der Raum von Gesang erfüllt. Wir sangen „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Welch ein Jubel, welche Freude“, „O, du fröhliche, o, du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ und andere bekannte Weihnachtslieder. Einige Mütter sangen den Alt, der Rest von uns den Sopran. Wir sangen voller Genuss und schwelgten in Erinnerungen: Lieder voller Freude, Lieder fürs Herz, die uns über den Terror des Krieges hinweghoben und uns Hoffnung auf bessere Tage machten.

Eine Tasche voller Glück
Ich erinnere mich nicht mehr an den langen Weg nach Hause. Aber ich erinnere mich an die wundervollen Geschenke, die ich bekommen hatte. Meine rechte Tasche wölbte sich mit dem schönsten Ball, den ich je besessen hatte. Und wie bunt er war! Viele Jahre später erfuhr ich, dass Frauen ihn aus zerrissenen Kleidern gemacht hatten, die sie mit regenbogenfarbenem Garn umhüllt hatten, das von alten Pullovern stammte. Und auch in der anderen Tasche befand sich ein himmlisches Geschenk: drei Plätzchen!

„Jesus, das wahre Licht, ist in die Welt gekommen – und keine noch so große Dunkelheit kann dieses wunderbare Licht löschen!“

Kurz nach diesem schönen Weihnachtsfest wurden wir wieder evakuiert. Aber dieses Mal hatte niemand für den Transport gesorgt. Alle Züge und Laster wurden vom Militär selbst benötigt. Der Gutsbesitzer nahm uns auf einem ungeschützten Heuwagen mit, der von zwei ausgemergelten Pferden gezogen wurde. Meine Mutter bedeckte uns vier Kinder mit dem alten Mantel meines Vaters. Eisiger Wind blies Schnee in unsere Nasen; unsere Wangen erfroren und unsere Lippen platzten auf. Wir aßen gefrorenes Brot, und ab und zu bekamen wir eine Tasse Milch, die das Rote Kreuz vorbeibrachte. Die Front im Rücken, reisten wir Tag und Nacht weiter. Sobald es sicher genug war  anzuhalten, schliefen wir in heruntergekommenen Scheunen oder verlassenen Häusern.

Irgendwann erreichten wir Österreich und drei Jahre später zogen wir zunächst nach Deutschland und schließlich nach Kanada. Doch egal, wie beschwerlich unsere Reisen oder unser Leben auch waren – die Erinnerung an dieses Weihnachtsfest leuchtete wie ein kleines Licht in der Dunkelheit.

Viele Jahre später, als meine eigenen Lebensumstände zu trostlos erschienen, um Weihnachten feiern zu können, erinnerte ich mich an die Wahrheit von Weihnachten, die in dieser Nacht in meinem Herzen geboren wurde: „Jesus, das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, ist in die Welt gekommen“ (Johannes 1,9) – und keine noch so große Dunkelheit kann dieses wunderbare Licht löschen! Mit Jesus in meinem Herzen und an meiner Seite kann ich über allen Umständen meines Lebens stehen – egal, wie dunkel und bedrohlich sie sein mögen. Darum feiere ich das Licht – an jedem Weihnachtsfest.

 

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