Gott hat keine Lieblingsmusik
Choral oder Lobpreis-Lied: Wann ist Musik eigentlich „geistlich“? Ein Plädoyer für einen weitherzigen Umgang mit Musik im Gottesdienst.
Wissen Sie, welche Aufforderung in der Bibel am häufigsten wiederholt wird? Es ist die Aufforderung, Gott zu loben. Das hebräische Wort „Halleluja“ steht im Imperativ, also der Befehlsform, und ruft uns zu: „Lobt den Herrn!“ Wer heute von „Lobpreis“ oder „Worship“ spricht, meint in der Regel Musik, die zur Ehre Gottes gemacht wird. Dabei ist Musik nur eine von vielen Ausdrucksformen, mit denen man Gott die Ehre geben kann. Denn Lobpreis, wie die Bibel ihn versteht, besteht in erster Linie aus einem Lebensstil, der durch alles, was er tut und sagt, Gottes Lob spiegelt (Römer 12,1–2). Um Gott zu loben, braucht man also nicht unbedingt Musik – aber unbedingt ein Herz, das Gott hingegeben ist. In diesem Sinn bezeichnet LaMar Boschman vom „Worship Institute“ Lobpreis als die Antwort des menschlichen Geistes auf den Geist Gottes. Ohne Hingabe und Leidenschaft ist kein Gotteslob möglich, denn Gott geht es nicht um bloße Pflichterfüllung oder fromme Handlungen. Darum will Gott auch Lobpreismusik, die ohne wahre Hingabe an ihn gemacht wird, nicht hören! Ja, es „ekelt“ ihn regelrecht an, wenn unser Mund eine andere Sprache spricht als unser Herz (Amos 5,23). Auf dem Hintergrund dieser Aussagen geht die in Gemeinden häufig geführte Diskussion über den „einzig wahren Musikstil“ völlig an dem vorbei, was die Bibel als relevant ansieht. Vielmehr wird die Einschränkung auf bestimmte Musikstile häufig von der Vorstellung genährt, dass Gott einen bestimmten Musikgeschmack habe und dass er unmöglich dort zu finden sei, wo nicht „seine Lieblingsmusik“ gespielt würde. Doch das Bild, das uns die Bibel von Gott zeigt, ist ein anderes: Gott ist (auch musikalisch) nicht in ein Schema zu pressen.
Die Kraft der Musik
Seit jeher waren Lieder ein Weg, auf dem Menschen Gott ihren Dank und ihr Lob ausdrückten (z. B. 2. Mose 15,1; 4. Mose 21,17; Jesaja 42,10; Lukas 1,46; Offenbarung 14,3 u. a.). Von Sets Nachkommen heißt es, dass sie die ersten waren, die begannen, den Namen des Herrn anzurufen (1. Mose 4,26). Später wurde es das Privileg der Leviten, Gottes Volk in Lobpreis und Musik anleiten zu dürfen. Weil sie das Goldene Kalb nicht angebetet hatten, sondern Gott gehorsam geblieben waren, wurden sie zum Dienst für Gott berufen (2. Mose 32,26–29), was auch das Leiten des Lobpreises im Tempel umfasste (Esra 3,10–11). Jesus und seine Jünger sangen (Matthäus 26,30), und im Buch des Propheten Zefanja heißt es sogar, dass Gott selbst singt: das hier gebrauchte hebräische Wort bedeutet so viel wie „Freudenjubel“ (Zefanja 3,17).
Immer wieder erwähnt die Bibel Gottes besondere Gegenwart und sein Wirken im Zusammenhang mit Musik: So ließ er die Mauern Jerichos einstürzen, als die Priester die Trompeten bliesen und das Volk in Kriegsgeschrei ausbrach (Josua 6,16). Er gebrauchte Davids Harfenspiel, um den bösen Geist in Saul zu vertreiben (1. Samuel 16,23). Und als Paulus und Silas Gott im Gefängnis sitzend anbeteten und lobten, bebte die Erde und ihre Ketten fielen ab (Apostelgeschichte 16,25). Zankapfel der Kirchengeschichte Beim Betrachten biblischer Texte hinsichtlich des Themas Musik fällt vor allem eins auf: Weder im Alten noch im Neuen Testament scheinen Art und Stil der Anbetungsmusik zur Diskussion gestanden zu haben – Gott wurde schlicht mit allen bekannt waren. Während also die Bibel keine Diskussion um Musikstile kennt, ist die Kirchengeschichte durch die Jahrhunderte angefüllt mit Konflikten darüber, wie „wahrhaft geistliche Musik“ denn nun zu klingen habe. Während des ersten Jahrtausends der Kirchengeschichte war eine Begleitung des Gesangs durch Instrumente nicht üblich. Durch die rasche Verbreitung des Christentums und mangelnde Notation, hatten sich verschiedenste Gesangsarten entwickelt. Mitte des ersten Jahrtausends war man bemüht, die kirchlichen Choräle zu vereinheitlichen. Der Gregorianische Choral, ein einstimmiger lateinischer Gesang, galt als Vorbild für Sängerschulen in ganz Europa und verdrängte die anderen Gesangsarten. Ab dem 12. Jahrhundert wurde der Gesang dann zunehmend von Instrumenten begleitet, was zunächst zu erheblichem Widerstand führte. Denn Instrumente im Gottesdienst wurden vielerorts als heidnisch angesehen.
„Lobpreismusik soll der Ehre Gottes dienen und nicht der Ehre von Menschen.“
Bis zur Zeit der Renaissance hatte der überwiegende Teil der Musik einen sakralen Hintergrund. Doch mit dem Einsetzen der neuen Epoche wurden zunehmend auch andere Themen besungen. Komponisten begannen, Musik für die Kirche und für den säkularen Raum zu schreiben. Eine gängige Praxis, die auch Martin Luther aufgriff, war es, allgemein bekannte Melodien mit geistlichen Texten zu versehen, sodass man die Musik auch im sakralen Rahmen nutzen konnte. Doch dieses Vorgehen fand nicht nur Zustimmung: So kritisierte zum Beispiel der Kirchenlehrer Erasmus, dass die moderne Kirchenmusik so geschrieben sei, dass die Versammlung kein Wort verstehen oder unterscheiden könne. Und der Schweizer Reformator Ulrich Zwingli verbot zeitweise, die neue geistliche Musik in seiner Kirche zu spielen.
Die bekanntesten Komponisten der Barockmusik – Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel – revolutionierten die Musikwelt. Händels „Messias“ oder Bachs „Matthäuspassion“ sind Meisterwerke, die vermutlich nie in Vergessenheit geraten werden. Doch zum Zeitpunkt ihrer Entstehung standen auch sie in der Kritik: So sprach der Pfarrer John Newton, Autor des bekannten Liedes „Amazing Grace“, ein Jahr lang jeden Sonntag darüber, dass Händels „Messias“ Gotteslästerung sei. Dieses häufig harsche Vorgehen gegen musikalische Veränderungen zieht sich bis in die Neuzeit. Die Anglikanische Kirche verbot im 18. Jahrhundert das Singen von Chorälen – einzig erlaubt waren Psalmen. Und vor nicht einmal siebzig Jahren schrieb Dietrich Bonhoeffer als offensichtlicher Vertreter des einstimmigen Gesangs: „Es gibt einige Feinde des einstimmigen Singens, die man in der Gemeinschaft mit aller Rigorosität ausmerzen muss.“ Wie paradox, dass sein bekanntestes Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ heute in fast jedem Liederbuch vierstimmig abgedruckt ist!
Alt gegen neu?
Doch so alt der Streit um die richtige Musik auch sein mag – vermutlich wurde er in der christlichen Gemeinde nie so kontrovers diskutiert wie in den vergangenen fünfzig Jahren. Vor allem im derzeitigen Medienzeitalter ändern sich Musikstile noch viel schneller als in den vergangenen Jahrzehnten. Veränderungen jedoch, die in zu kurzer Zeit geschehen, rufen meist heftige Reaktionen hervor – weshalb die Mehrheit der Plädoyers für oder gegen einen bestimmten Musikstil häufig emotional und einseitig ausfallen.
„Die Diskussion über den 'einzig wahren Musikstil' geht völlig an dem vorbei, was die Bibel als relevant ansieht.“
So lautet ein immer wiederkehrender Vorwurf gegenüber der modernen „Lobpreis-Welle“, der Musikstil sei „zu weltlich“ und ihre Befürworter und Vertreter werden nicht selten (natürlich fromm verpackt) verunglimpft. Doch hier stellt sich die Frage: Kann Musik überhaupt frei von weltlichen – sprich: kulturellen und gesellschaftlichen – Einflüssen entstehen? Darum wird spätestens bei pauschalen Schwarz-Weiß-Aussagen wie: „Ältere geistliche Lieder sind gewöhnlich unbedenklich“, oder: „Wenn Sie unsicher sind, ob ein bestimmtes Lied vom Rockrhythmus beeinflusst ist und Sie das nicht selbst herausfinden können, dann schreiben Sie mir und ich werde Ihnen helfen …“, deutlich, dass es sich nicht um eine objektive Stellungnahme der Bibel zum Thema handelt, sondern um menschlich subjektive Meinungen. Doch auch mancher Vertreter der zeitgemäßen Musik argumentiert gerne einseitig, indem er das Bibelwort „Singet dem Herrn ein neues Lied!“ (Psalm 96,1) dazu missbraucht, traditionelles Liedgut am besten gleich ganz loszuwerden. Luther war seinerzeit der Meinung, dass neben dem Wort Gottes der Musik der höchste Stellenwert gehöre. Während der Zeit der Reformation entstanden viele der Hymnen und Choräle, die auch heute noch gesungen werden, weil ihre Texte zu Menschen sprechen. Denn viele
von ihnen vermitteln tiefe theologische Wahrheiten, die Menschen durch Leid und Verfolgung getragen haben. Es waren diese Lieder, mit denen sich Christen durch die Jahrhunderte hindurch gegenseitig Mut und Trost zusangen. Nicht umsonst haben sie die Jahrhunderte überdauert – und haben bei genauem Hinschauen bis heute nichts an Aktualität verloren.
Nicht wie, sondern warum
All das macht klar: Ob unser musikalisches Lob Gottes wirklich „geistlich“ ist und Gott gefällt, hat in erster Linie mit dem „Warum“ zu tun und nicht mit der Frage, welche Art von Musik wir machen. Nicht wie man Gott mit Musik lobt, ist ausschlaggebend, sondern was uns dabei bewegt: Will ich mit neuem Liedgut lediglich meinen eigenen Musikgeschmack verwirklicht sehen – oder dient es der Bereicherung der Gemeinde? Andererseits gilt auch: Musik ist nicht geistlicher, nur weil sie älter ist! Unsere Gesellschaft, Sprache und Kultur ist nicht mehr die, die sie zu der Zeit war, in der viele der bekannten Choräle geschrieben wurden. Und weil Gemeinde kein starres Prinzip, sondern ein lebendiger Organismus ist, verändert sie sich – und mit ihr auch ihr Liedgut. Lobpreismusik soll der Ehre Gottes dienen und nicht der Ehre von Menschen. Aus diesem Grund sollte der musikalische Rahmen eines Gottesdienstes Alten und Jungen, Modernen und Traditionellen, Konservativen und Progressiven gleichermaßen die Möglichkeit schenken, Gott mit Liedern anzubeten. Es liegt im Wesen der neutestamentlichen Gemeinde, dass Menschen aus allen Generationen und aus verschiedensten ethnischen und kulturellen Hintergründen zur
Einheit in Christus finden – einer Einheit, die durch die Liebe zusammengehalten wird. Gemeinden, in denen verschiedene Musikstile nebeneinander Raum finden, sind darum ein kraftvolles Zeugnis dafür, wie der Blick auf
Jesus sowohl kulturelle Unterschiedlichkeiten als auch generationsbedingte Musikgeschmäcker überwindet.
Frühjahr 2013
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