Ein Traum von Frieden
Interview
Vielleicht eins der bekanntesten Zitate dieser Welt stammt von einem Mann, dessen Überzeugungen auch Jahrzehnte später nichts an Bedeutung eingebüßt haben. „Ich habe einen Traum!“ Ob sich etwas geändert hat, ob es Friedens-Fortschritt gibt und ob wir Martin Luther King Jr. vielleicht falsch verstanden haben, erklärt Dr. Michael Haspel im Gespräch mit Detlef Eigenbrodt.
Herr Dr. Haspel, wie kann man die Spiritualität Dr. Martin Luther Kings beschreiben?
Es ist eine Spiritualität der Befreiung von der Sünde, aber auch von den weltlichen Folgen der Sünde, wie Versklavung, Unterdrückung und Ausbeutung. Denn alle Menschen sind Gottes Ebenbilder und haben die gleiche Würde. Und diese Würde zu achten, ist für King die Haltung der Liebe. Also könnte man sagen, es ist eine Spiritualität der Achtung der Würde aller Menschen. Und wenn ich recht sehe, sind es mindestens vier spirituelle Formen, die King lebte. Zum einen sind es die Spirituals, die diesen Geist der Befreiung und Würde vergegenwärtigen. Wenn King den Blues hatte, hat er die berühmte Gospelsängerin Mahalia Jackson angerufen und sie gebeten, für ihn zu singen. Aber auch das gemeinschaftliche Singen gehört hier dazu. Die zweite spirituelle Praxis ist für King die prophetische Schriftauslegung. Bestimmte Bibelworte, wie etwa Amos 5,24, haben ihn täglich begleitet. Drittens war für King neben dem öffentlichen Gebet das persönliche Gebet entscheidend. Im wahrsten Sinne des Wortes. In Zeiten der Krise, aber auch im Alltag. Bei wichtigen Entscheidungen hat er sich zum Leidwesen seiner Mitarbeitenden oft zum Gebet zurückgezogen. Und schließlich war für ihn sein Kampf gegen Rassismus und Ausbeutung eine spirituelle Praxis. Denn Gerechtigkeit und Liebe waren für ihn die beiden Seiten einer Medaille.
Kings Auseinandersetzungen fanden ja zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen statt. Hat das heute noch Relevanz?
Leider hören sich viele Texte ganz aktuell an: die Überwindung von Gewalt und Krieg, die Achtung der Würde aller Menschen als Gottes Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft, die Bekämpfung von Armut weltweit. Das waren für King nicht nur politische Herausforderungen, sondern Impulse, die sich
aus dem Glauben ergaben.
Heute ist Rassismus ein viel verwendeter Begriff, was genau müssen wir darunter verstehen?
Rassismus ist die Abwertung von Menschen auf Grund äußerer Merkmale, wie z. B. der Pigmentierung der Haut. Es ist ja wissenschaftlich unumstritten, dass es keine menschlichen „Rassen“ gibt. Und diese Abwertung kann sich durch persönliche Haltungen und Verhalten ausdrücken, vor allem aber wird sie gesellschaftlich wirksam, indem bestimmte Gruppen benachteiligt und andere privilegiert werden. Da Christen darauf vertrauen, dass alle Menschen als Gottes Ebenbilder gleiche Würde haben (1. Mose 1,27f), ist Rassismus als ein Konzept der Ungleichwertigkeit nicht mit dem christlichen Menschenbild zu vereinbaren. Um Rassismus zu überwinden, ist die Änderung gesellschaftlicher Strukturen notwendig.
Ist das Gegenteil von Ungerechtigkeit automatisch Gerechtigkeit?
Martin Luther King ging es vor allem um Teilhabegerechtigkeit, das heißt, dass Schwarze gleiche Zugangschancen haben zu Bildung, Arbeitsmarkt, medizinischer Versorgung und politischer Repräsentation. Es geht also nicht um Ergebnisgleichheit, sondern um gleiche Startchancen. Dazu kann es notwendig sein, strukturell besonders benachteiligte Menschen besonders zu fördern, damit sie überhaupt teilnehmen können. Um das zu erreichen, muss Ungerechtigkeit Stück für Stück überwunden werden. So dass, wie es beim Propheten Amos heißt, „das Recht ströme wie Wasser; die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5,24).
„Aus meiner Sicht widerspricht das nicht nur dem christlichen Menschenbild, sondern dem christlichen Glauben im Kern.“
Sie lehren in Thüringen, wo die Menschen über das richtige politische „Nach vorn“ so elend zerstritten sind. Was würde King denen sagen?
Das weiß ich nicht. Ich finde, dass wir selbst zu verantwortlichen Urteilen kommen sollten. Dabei sind Kings Analysen, Argumente und Visionen allerdings hilfreich. Ich kann Ihnen sagen, was ich denke: Es ist der neuen Rechten, den mit Russland kooperierenden Akteuren und der AfD gelungen, über Social Media gezielt und systematisch Fake News zu verbreiten und dann Verschwörungsnarrative als Lösung anzubieten. Sie können einfach die Websites der Kandidatinnen und Kandidaten der AfD anschauen. Das geht von der Verschwörungserzählung vom großen Austausch bis zur Leugnung der Klimakata-strophe. Aus Umfragen wissen wir, dass eine hohe Zahl der rechtspopulistischen Wähler und Wählerinnen, aber auch darüber hinaus, an Verschwörungsnarrative glaubt. Dadurch wird jegliches Vertrauen in eine geteilte Wahrheit erschüttert. Aus meiner Sicht widerspricht das nicht nur dem christlichen Menschenbild, sondern dem christlichen Glauben im Kern.
Ich liebe Kings „Ich habe einen Traum“ …
Da muss ich die Begeisterung etwas trüben. So großartig die „Ich habe einen Traum“-Rede ist, so gefährlich ist auch, King darauf zu begrenzen. Der Höhepunkt ist ja, dass King sagt, dass alle Menschen Gottes Kinder sind und gleiche Würde haben. Das ist wunderbar. Zu diesem Zeitpunkt war King einer der beliebtesten Menschen in den USA. Als er dann ab 1966 angefangen hat, die sozialen Missstände in den Städten des Nordens zu bekämpfen, sank seine Beliebtheit rapide, weil es an die Privilegien der weißen Mittelschicht ging. Und dieser Teil von Kings Botschaft wird oft unterschlagen. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Für eine wachsende schwarze Mittelschicht hat sich viel verbessert; aber auch sie ist nicht vor Rassismus und Polizeigewalt sicher. Für die große Mehrheit der Schwarzen hat sich trotz
der rechtlichen Gleichstellung ökonomisch nicht viel verbessert.
Wir sprechen über Spiritualität, Theologie, Glaube, Kirche und Verantwortung. Ich möchte es gerne von der Institution auf den Einzelnen runterbrechen: In welcher Weise muss sich ein Mensch, der den Gott der Bibel ernst nimmt, verhalten und positionieren, damit es friedlich zugeht?
Auch hier zu Beginn ein kleiner Einwand, nein sogar zwei: Ich finde, „runterbrechen“ ist eine ganz schlimme Vokabel. Wer oder was wird denn da gebrochen? Und ich würde keine Trennung von Institution und Individuum machen. Als Christen leben wir ja auch in komplexen modernen Gesellschaften und können also nur vernetzt etwas bewirken. Da antworte ich doch einmal mit King: den Nächsten in Liebe begegnen. Gerade auch den Nächsten in Not, wie er es immer wieder anhand von Texten des Lukasevangeliums kommuniziert hat: Liebe als Haltung, die die Würde aller Menschen als Gottes Kinder respektiert. Das gilt für die Nächsten, und das gilt – ohne unrealistisch zu werden – auch für gesellschaftliche Zusammenhänge.
Lieber Herr Haspel, herzlichen Dank für das Gespräch und Ihnen Gottes Segen.
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