Gott allein ist genug! Ist Gott allein genug?
Inspiration
Es ist mit Parolen immer so, mit Thesen, Statements, mit Aussagen, die polarisieren: Sie müssen auf den Prüfstand. „Gott allein ist genug“ ist eine dieser Thesen. Eine, die als unnachgiebige Forderung, als Imperativ, schon viel Unheil angerichtet hat. Eva Dittmann und Steffen Schulte stellen hier die Gegenfrage zur These und wollen wissen: Ist Gott allein denn wirklich genug?
Als dem zwischenzeitlich verstorbenen Pastor Timothy Keller Krebs diagnostiziert wurde, bat er um Gebet. Neben der Bitte um Heilung hatte er auch das folgende Gebetsanliegen genannt: „Betet für Kathy und mich, dass wir diese Gelegenheit nutzen, um uns von den Freuden dieser Welt zu entwöhnen und uns vor allem nach Gottes Gegenwart zu sehnen.“
Was für ein Gebet!
Er bittet darum, dass sie diese Gelegenheit – diese schwere Krankheit und ihre kraftraubende Behandlung – nutzen. Im Kontrast dazu sind meine, Steffens, Gebete oft davon geprägt, dass Gott uns aus einer schwierigen Situation befreien möge. Auch dafür betete Timothy Keller täglich, aber er hatte auch erkannt, dass diese Situation eine Chance darstellte. Im Verlust seiner Gesundheit sah er eine Gelegenheit, sich von den Freuden dieser Welt zu entwöhnen und sich ganz nach Gottes Gegenwart zu sehnen. Gott ist jederzeit zutiefst daran interessiert, was für Menschen wir werden, und leider sind tiefgreifende Veränderungen häufig nur in schweren Zeiten möglich. Martin Luther hat dies mit der Anfechtung (Tentatio) beschrieben: „Die ist der Prüfstein, die lehret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.“ Oder anders gesagt: Unser Glaube geht von der Theorie in die Praxis über.
Wie werde ich reagieren?
Sehr deutlich sehen wir dies in der Wüstenwanderung des Volkes Israel. Dort kam es immer wieder zu schwierigen Situationen, in denen es an Essen und Wasser mangelte. Also echte Probleme! In 5. Mose, Kapitel 8, lesen wir folgende Erklärung: „Er (Gott) demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Manna, das du und deine Väter nie gekannt hatten, auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des Herrn geht.“ Im Leben werden wir immer wieder Verluste erleiden. Verlust von Freunden, von Arbeit, von Sicherheit, Verlust unserer Unabhängigkeit oder Gesundheit. Immer, wenn das passiert, stellt sich die Frage: Wie werde ich darauf reagieren? Ist dies ein Moment, in dem sich Bitterkeit und Neid in mir entfalten, oder ist es einer, in dem ich Gott suche? Immer wieder passiert sogar beides!
Glauben und innere Ruhe
Wenn wir uns das Gebetsanliegen von Timothy Keller vergegenwärtigen, sehen wir eine Doppelbewegung. Einerseits bittet er um einen guten Umgang mit dem Verlust. Er nennt es entwöhnen. Andererseits weiß er, dass er Freude braucht, und deshalb bittet er, dass die Leere, die durch den Verlust entsteht, mit einer größeren Sehnsucht nach Gott gefüllt wird. Natürlich gibt es in unserem Herzen oder Kopf keinen Schalter, den wir einfach umlegen können. Dies sind Prozesse. Der Apostel Paulus ist ein gutes Beispiel dafür, mit welcher Leichtigkeit jemand der Möglichkeit des Todes begegnen kann, wenn er von einer tiefen Sehnsucht nach Gott erfüllt ist. An die Christen in Philippus schreibt er: „Denn der Inhalt meines Lebens ist Christus, und deshalb ist Sterben für mich ein Gewinn.“ Was wir in Philipper 1,21–24 sehen, ist kein Paulus, der seine Emotionen unterdrückt. Vielmehr versucht Paulus hier zu erklären und sogar zu verkörpern, wie man im Griff der Gnade lebt und stirbt, wie man dem Tod im Glauben begegnet und wie man den Lauf des Lebens in Treue zu Gott beendet. In Kapitel 1 zeigt Paulus, dass er sogar damit leben kann, wenn er in Verruf gerät oder übervorteilt wird, solange Jesus dabei verherrlicht wird. Später in Kapitel 4 beschreibt er, wie er durch den Glauben eine innere Ruhe gefunden hat, sodass er in allen Lebenslagen durch Gottes Gnade eine innere Zufriedenheit erlebt. Wir können es nicht verhindern, dass wir verletzt werden oder dass uns Leid begegnet, aber wir haben Einfluss darauf, wie wir damit umgehen.
„Im Leben werden wir immer wieder Verluste erleiden. Verlust von Freunden, von Arbeit, von Sicherheit, Verlust unserer Unabhängigkeit oder Gesundheit. Immer, wenn dies passiert, stellt sich die Frage: Wie werde ich darauf reagieren?“
Komme, was da wolle …?
Wenn ich, Eva, diese Texte von Paulus so lese, spüre ich sofort meine innere Zerrissenheit. Einerseits will ich ja von Herzen sagen können: „Komme, was wolle – Gott ist genug!“ Anderseits sträubt sich doch gleichzeitig alles in mir, weil mein Herz gleich die leise, aber berechtigte Vorahnung hat, dass eine solch kühne Gelassenheit nur durch einige schmerzhafte Prozesse des Loslassens möglich ist. Und deswegen geht mein Herz sofort in den Rückzugs- und Verteidigungsmodus.
Wie ein unwissendes Kind
Ganz praktisch sieht man die Verstricktheit meines Herzens immer dann, wenn ich im Alltag mit meinen Sehnsüchten konfrontiert bin oder Verluste navigieren muss. Hier bleiben mir letzten Endes nur zwei Optionen: Ich kann mich entweder an Gott wenden, weil er mich sieht und das Beste für mich will. Oder ich kann versuchen, selbst nach Lösungen zu suchen und meine – empfundenen – Bedürfnisse zumindest kurzfristig zu stillen. Rein objektiv betrachtet ist es doch erstaunlich, wie oft sich mein Herz für die sisyphusartige und absolut notdürftige zweite Option entscheidet – einfach, weil es diesen ersten Vertrauensschritt hin zu Gott nicht wagen möchte. Mit den Worten von C. S. Lewis verhalten wir uns dabei „wie ein unwissendes Kind in einem Slum, das Matschkuchen backt, weil es sich nicht vorstellen kann, was es bedeutet, Ferien am Meer angeboten zu bekommen.“ Ja, wir berauben uns selbst, wenn wir glauben, dass andere Dinge unsere tief empfundene Leere wirklich füllen können.
Ich und meine Sehnsüchte
Aber immer dann, wenn mein Herz doch mal bereit ist, Gott die Kontrolle über mein Leben abzugeben, loszulassen, erlebe ich die Unerschöpflichkeit seiner Gnade, die alle meine Vorstellungen übersteigt. Von der Gnade ergriffen, werde ich dabei manchmal langsam und sanft, manchmal plötzlich und heftig aus meinen festgefahrenen Bewältigungsmechanismen herausgeführt, um das Leben ergreifen zu können, was Gott für uns vorbereitet hat. Im Umgang mit meinen Sehnsüchten und Verlusten kann ich mich dort ganz konkret von den richtungsweisenden Impulsen und Schwingungen der Gnade mitreißen lassen.
„Von der Gnade ergriffen, werde ich dabei manchmal langsam und sanft, manchmal plötzlich und heftig aus meinen festgefahrenen Bewältigungsmechanismen herausgeführt, um das Leben ergreifen zu können, was Gott für uns vorbereitet hat.“
Christuszentriert
Im Griff der Gnade werde ich von meiner Defizitorientierung hin zur Christuszentrierung geführt. In unserer konsum- und bedürfnisorientierten Welt werden wir täglich darin geschult, uns vor allen Dingen auf unseren Mangel zu konzentrieren. Dabei verlernen wir, zwischen den empfundenen und tatsächlichen Bedürfnissen zu unterscheiden. Am Fuß des Kreuzes werden wir daran erinnert, dass Gott uns in Jesus schon alles geschenkt hat, was wir wirklich brauchen.
Ewigkeitszentriert
Im Griff der Gnade werde ich von meiner Kurzsichtigkeit hin zu einer Ewigkeitsperspektive geführt. Denn wer sein Leben vom Ziel „Ewigkeit“ her kalibriert, kann im Vertrauen auf Gottes Souveränität, Liebe und Macht auch Sehnsüchte oder Enttäuschungen besser einordnen. Denn entweder war das, wonach wir uns gesehnt haben – zu dem Zeitpunkt oder in der Art und Weise, wie wir es uns gewünscht haben –, nicht zu unserem Besten, oder Gott ist einfach noch nicht fertig damit, diese Enttäuschung zum Guten zu wenden.
Hoffnungszentriert
Im Griff der Gnade werde ich von meiner Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit zu einer Sehnsucht nach Gottes Nähe geführt. Gott liebt uns genug, um uns zu enttäuschen – einfach, weil er uns aus unserer Komfortzone in die wunderbar intime und gleichzeitig auch irgendwie riskante Begegnung mit ihm einladen möchte. In seiner Gegenwart bekommen wir den Raum, unseren Schmerz zu verarbeiten und miteinzustimmen in die Anbetung.
Lebenszentriert
Im Griff der Gnade werde ich von meinen (unerfüllten) Wünschen zu einem erfüllten Leben geführt. Wenn ich erst einmal verstanden habe, was Gott alles für uns vorbereitet hat, erscheinen meine früheren Sehnsüchte schnell in einem anderen Licht. In Jesus wird unser Herz frei von allem, was uns versklavt. Wir lernen, die wirklichen Bedürfnisse unserer Nächsten zu sehen, und entfalten das Potenzial, das Gott in uns hineingelegt hat.
„In Jesus wird unser Herz frei von allem, was uns versklavt. Wir lernen, die wirklichen Bedürfnisse unserer Nächsten zu sehen, und entfalten das Potenzial, das Gott in uns hineingelegt hat.“
Wir können lernen
Gott lädt uns jeden Tag aufs Neue ein, diesen Vertrauensschritt zu wagen und uns von der Gnade ergreifen zu lassen. Und wir können das immer wieder im Kleinen üben, um uns schon im Hier und Jetzt darauf vorzubereiten, diesen Schritt auch im Großen gehen zu können. Wir können uns immer wieder bewusst von Freuden dieser Welt fernhalten, um Gott Raum zu geben. Oder um es mit den Worten des Philosophen Dallas Willard zu sagen: „Wir können lernen, glücklich und zufrieden zu sein, wenn wir nicht das bekommen, was wir wollen.“ Eine konkrete Übung dazu ist zum Beispiel das Fasten. Ich verzichte bewusst auf etwas und versuche, diese Leere mit Gott zu füllen. Das kann das Essen sein, das kann aber auch etwas anderes sein: der Wein am Abend, Fernsehkonsum oder wie auch immer unsere Wünsche so heißen.
Wir können loslassen
Eine andere Hilfestellung ist, uns bewusst zu machen, dass Gott in jeder Situation unseres Lebens gegenwärtig und am Wirken ist. Jeder Tag, jeder Moment bietet Gelegenheiten, Gott mit einzubeziehen. Um sich diese Gegenwart Gottes und unsere Abhängigkeit von ihm bewusst zu machen, kann die Struktur eines Willkommensgebets helfen. Sie besteht aus drei Schritten: Beginne das Gebet, indem du versuchst, deine Emotionen zu erkennen. Was fühlst du? Benenne es. Vielleicht spürst du es in deinem Körper. Im Magen, in den Schultern … Konzentriere dich darauf, aber analysiere es nicht und unterdrücke es nicht. In einem zweiten Schritt begrüße das Gefühl. „Willkommen …“ Heiße das Gefühl willkommen, nicht die Situation. Das klingt vielleicht ungewohnt. Gerade wenn es negative Gefühle sind, wie zum Beispiel Neid oder Sorgen. Durch das bewusste Begrüßen erkennen wir an, dass diese Emotionen in uns sind, und verdrängen sie nicht. In einem letzten Schritt lassen wir los und überlassen es Gott, indem wir zum Beispiel laut aussprechen:
• Ich lasse meinen Wunsch nach Sicherheit und Überleben los.
• Ich lasse mein Verlangen nach Wertschätzung und Zuneigung los.
• Ich lasse mein Verlangen nach Macht und Kontrolle los.
• Ich lasse mein Verlangen los, die Situation zu ändern.
Mir, Steffen, hilft das Bild von offenen, ausgestreckten Händen. Ja, es kann sein, dass, wenn die Hand geöffnet ist, mir jemand etwas daraus wegnimmt. Auf der anderen Seite wird Gott nichts in geschlossene Hände, die geballten Fäusten gleichen, hineinlegen können. Ich aber will von ihm empfangen, was er anbietet, und öffne mich gerne und bereitwillig für sein Tun.
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