Genau hier will ich sein
Bericht
Wie fühlt man sich, wenn nichts als Leid einen umgibt oder jedenfalls fast nichts als Leid? Wenn es einem selbst so weit gut geht, man dankbar zu denen gehört, die ein privilegiertes Leben leben, sich aber auch denen nicht verschließen, die eher auf der Schattenseite stehen? Wenn man helfen will und dabei an seine Grenzen kommt? Ein Bericht von Andrea Wegener.
„Bist du eigentlich glücklich?“, fragten mich kürzlich Freunde, die mich in Griechenland besuchten und mein Leben und meine Arbeit ziemlich hautnah miterlebten: die atemberaubenden Strände, die Sonnenuntergänge und die schnuckeligen Gässchen in unseren Touristenorten, aber auch die Hoffnungslosigkeit und das Durcheinander im Camp.
Ich will nicht den Mut verlieren
Als ich vor fünf Jahren aufbrach, um unter Flüchtlingen auf Lesbos zu arbeiten (damals noch im berüchtigten Lager Moria), war tatsächlich eine meiner Sorgen, dass mir die Freude abhandenkommen würde. Ich bin ein insgesamt zuversichtlicher Mensch und zudem mit keinem Übermaß an Sensibilität gesegnet; Schwieriges kann ich ganz gut ausblenden. Aber würde ich angesichts des allgegenwärtigen Leids zynisch, biestig und ziemlich unerträglich werden?
Geht es mir nach all den Jahren (noch) gut? Was hilft mir, den Mut nicht zu verlieren? Ganz ehrlich: Wenn ich meine Zufriedenheit davon abhängig machte, wie sich die Umstände durch unser Mittun zum Besseren ändern, wäre das ziemlich vorläufig. Der Grundwasserspiegel von Leid hat sich nicht verändert. Dass die Menschen, mit denen wir zu tun haben, Traumatisches erlebt und oft eine jahrelange Odyssee hinter sich haben, ist die eine Seite. Der Umgang mit Institutionen und Behörden, die völlig unberechenbar und nicht besonders menschenfreundlich sind, ist die andere. Im permanenten und oft vermeidbaren Ausnahmezustand, den planlose Bürokraten verursachen, weiß ich oft nicht, ob ich lachen oder weinen soll. In den letzten Jahren dachte ich manchmal: Es geht eben immer zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück, aber immerhin stimmt die Richtung.
Einfach zum Heulen
In den letzten Wochen kam es mir eher so vor, als ginge es nicht einen, sondern drei Schritte zurück – und zwar in die falsche Richtung: Es kamen innerhalb von Wochen einige Tausend Asylbewerber mehr an als erwartet, und das brachte so viel Chaos und neues Leid mit sich, dass es uns das Herz umdrehte: Familien, die auf dem Boden schliefen. Menschen, die wochenlang ohne Wechselkleidung oder ausreichendes Wasser blieben, während sie im Camp auf ihre Erstregistrierung warten mussten. Junge Mütter, die nach den Strapazen der Reise nicht genügend Milch zum Stillen hatten, aber nur schwer an Ersatzmilch herankamen. Kranke, die lange keinen Arzt zu sehen bekamen und denen Medikamente fehlten. Unbegleitete Minderjährige, die im allgemeinen Durcheinander kaum den Schutz bekamen, der ihnen gesetzlich zusteht. Viele, viele Kinder – darunter auch ein kleiner Junge, der in unserem Aktivitäten- Container immer von einer anderen „Tante“ betreut wurde und noch gar nicht erfahren hatte, dass seine Mama ihr gemeinsames Schiffsunglück vor einigen Wochen nicht überlebt hatte. Wenn ich mir auf dem Weg zum Camp- Commander einen Weg durch Dutzende erschöpfte Gestalten bahne, ist mir manchmal zum Heulen zumute.
Das Leid gelindert
Und trotzdem möchte ich nirgendwo anders sein. An so vielen Stellen können mein Team und ich dazu beitragen, dass Leid gelindert wird, und das gilt es immer wieder zu feiern. Ich erinnere mich zum Beispiel an den 31. Dezember 2021, den „Tag des letzten Zelts“ in unserer Zeitrechnung, an dem wir das letzte der tausend 16-Quadratmeter- UN-Zelte abbauten, in die bis zu drei Familien gequetscht worden waren: Wir hatten um eine bessere Behausung nach der anderen gekämpft, bis alle Familien und Frauen in Containern und Plastikhäusern untergekommen waren. Ein halbes Jahr später konnten auch die allein reisenden Männer umziehen, die viel zu lange mit bis zu 150 Leuten in großen „Rubb Hall“-Zelten untergebracht waren. Das alles hatte mühsame Überzeugungsarbeit, einiges an Fundraising und nicht zuletzt viel ganz praktische Arbeit gekostet. Wir waren unendlich erleichtert und wirklich froh über diesen Meilenstein.
„Es hilft mir sehr, mir immer wieder bewusst zu machen, dass jeder einzelne Mensch unendlich wertvoll ist: Es ist genug, an diesem einen Tag das Leben dieses einen Menschen ein bisschen erträglicher zu machen. “
Es geht um Menschen
Fest steht aber auch: Wir retten nicht die Welt, und zum Glück müssen wir das auch nicht. Das ist eines der Dinge, die ich auch unseren jüngeren und unerfahreneren Teammitgliedern vermitteln möchte, die sich oft sehr schwer damit tun, die Begrenztheit unseres Handelns anzunehmen. Es geht eben nicht um Projekte, die wir fertigstellen, sondern es geht immer um einzelne Menschen, denen diese Projekte zugutekommen. Es hilft mir sehr, mir immer wieder bewusst zu machen, dass jeder einzelne Mensch unendlich wertvoll ist: Es ist genug, an diesem einen Tag das Leben dieses einen Menschen ein bisschen erträglicher zu machen. Vor einiger Zeit konnten Abdulaziz aus Afghanistan und seine drei Kumpel aus einem Verschlag in einem Riesenzelt in ihr eigenes (Plastik-)Häuschen ziehen. Wie viel ihnen das bedeutet, erzählen sie gerne. Diese Freude wird ja nicht dadurch ungültig gemacht, dass in der aktuellen Notlage manche Menschen – leider wieder – erst einmal ohne Decke und Matratze auf dem Boden in einem ebensolchen Zelt unterkommen. Wir wollen heute das tun, was wir tun können – ohne Garantie, dass wir es morgen auch noch tun können oder dass das Ergebnis morgen noch zu sehen sein wird.
Dein Lächeln gab mir Kraft
Und gerade da, wo es nicht reicht und die Not wieder größer scheint als alle Hilfe, die wir geben können, ist einfach unser Dasein und Für-die-Menschen-Sein gefragt. „Das Leben im Camp war sehr schwierig“, hat es bei ihrem Abschied von der Insel kürzlich eine junge Christin aus Eritrea auf den Punkt gebracht. Sie hatte mit einigen ihrer Landsleute sonntags den gleichen Gottesdienst besucht wie mein Team und ich. „Aber eure Freundlichkeit hat uns immer wieder Hoffnung gegeben. Ihr konntet uns nicht immer helfen, aber ihr habt immer gelächelt. Wenn wir gute Nachrichten hatten, habt ihr euch mit uns gefreut, und wenn es uns schlecht ging, haben manche von euch mit uns geweint. Das hat uns sehr, sehr viel bedeutet.“
Ihre Worte haben auch mir Mut gemacht und neue Motivation gegeben, nicht aufzugeben. Ich möchte nie unterschätzen, was für einen großen Unterschied selbst ganz kleine Dinge machen können.
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