Die Reise meines Lebens

Leitartikel

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Das kennt man ja. Erlebnisse aus dem letzten Sommerurlaub, von den Gepflogenheiten der Menschen und Kulturen, von den Unterkünften und Mahlzeiten. Schönes und Schräges, manchmal schrill und manchmal sogar schäbig. Detlef Eigenbrodt nimmt uns mit auf die Reise seines Lebens.

Es ist Samstagnachmittag und ich sitze auf dem Balkon meines Hotelzimmers am Bodensee. Vor mir liegt der kleine Yachthafen, direkt dahinter erstreckt sich Weite, ich kann das gegenüberliegende Ufer wohl sehen, aber nichts wirklich erkennen. Die Sonne gibt sich Mühe, mich bei Laune zu halten, und ist dabei ziemlich erfolgreich. Ich lasse sie mir ins Gesicht scheinen, lehne mich zurück, atme ein und aus. Ganz tief. Ganz bewusst. Sonne, ein sanftes Lüftchen, Ruhe. Ich atme ein und aus. Ganz bewusst, und horche auf, als die Geräuschkulisse unter meinem Balkon sich verändert.

Ich schau ihm bei der Arbeit zu

Ein junger Mann macht sich an seinem kleinen Boot zu schaffen, entfernt Schutzbezüge, sortiert und ordnet Taue und Hebel, überprüft Haken und Karabiner, holt das Segel aus einer Tasche und steckt es auf – für mich sieht es so aus, als wäre er absolut nicht in Eile und hätte alle Zeit der Welt, seine Ausfahrt vorzubereiten. Nicht dass ich irgendetwas von dem verstehen würde, was da unten vor sich geht. Aber es sieht gut aus. Bedacht und vernünftig. Und als ich ihm so zuschaue, entert eine Frage meine Gedanken: Wie bereite ich mich eigentlich auf die Reisen meines Lebens vor? Die kurzen und die langen? Die realen Ausfahrten, vielmehr aber auch die inneren, wie mache ich mich da auf den Weg? Ich atme ein, ich atme aus, tief, bewusst, schaue dem Burschen bei seiner Arbeit zu und lasse meine Gedanken los. Und obwohl ich hier allein in der Sonne sitze, ist mir klar, dass ich nicht allein bin. Irgendwie hat das was.

Bewegungslos vorankommen

Dienstagfrüh, kurz nach dem Frühstück. Ich schnüre meine Schuhe und mache mich auf den Weg. Auf den Höhen des Sauerlands unterwegs, atme ich frische Luft und genieße die Abgeschiedenheit und Ruhe. Und setze einen Fuß vor den anderen, unbeirrt, Steigungen rauf, Pfade runter, meine Bewegungen automatisieren sich, ich komme in einen Rhythmus, mein Körper bewegt sich wie von selbst. Und so gehe ich, Meter um Meter, Kilometer um Kilometer, und klettere schließlich auf eine Aussichtsplattform, die mir einen Blick in die Ferne weit über den Baumwipfeln erlaubt. Rundum. 360 Grad. Niemand hier, außer mir. Das einzige Geräusch ist das meiner Sohlen auf dem Metallrost unter meinen Füßen und das des Windes, der durch die Bäume huscht. Reglos stehe ich da, atme. Entspanne die Muskeln meiner Schultern, lasse die Arme locker hängen, ziehe die Luft tief durch die Nase ein und fülle meine Lungen, bis es nicht mehr geht. Dann halte ich kurz an und lasse sie sanft und sachte wieder entweichen. Einatmen. Ausatmen. Und dann lehneich mich ans Geländer und schaue in die Weite. Ich verschmelze mit der Szenerie und werde zu einem regungslosen Teil des Bildes. Integriere mich still, bin einfach da. Ja, ich bin. Nicht nur Teil des Bildes, sondern ich. Ich bin ich. Hier. Mutterseelenallein mit mir und meinen Gedanken, die nur sehr schleppend in Bewegung kommen. Gut so. Ganz in der Ferne erkenne ich die Umrisse eines Heißluftballons, meine Augen verfolgen ihn, und meine Seele atmet still in der schieren Bewegungslosigkeit seines Vorankommens. Wie schnell komme ich eigentlich an mein Ziel? Und wie viel Aufwand muss ich dafür betreiben? Und mutterseelenallein – stimmt das denn?

Da muss mir jemand tragen helfen

Freitagvormittag, in meinem Büro stapeln sich die Dinge, die dringend meine Aufmerksamkeit fordern, als das leise „Pling“ einer eingehenden Textnachricht mich aus der Konzentration reißt. Mechanisch greife ich zu meinem Smartphone und lese. Ein Freund schreibt. Und was er schreibt, rührt mich an. Er teilt seine Gedanken, Sorgen und Ängste. Er teilt seine Hoffnungen und Bemühungen und Anstrengungen. Er teilt sein Herz, und ich spüre, wie sich meins mit dem seinen synchronisiert. Ich lehne mich zurück, schließe einen Moment die Augen und atme tief ein. Und aus. Dann noch mal. Ich lasse zu, dass seine Worte mich erreichen, und spüre die Nähe, die uns verbindet. Und ich spüre, dass ich hier zwar allein sitze, aber nicht allein bin. Seine Last wäre auch zu viel für meine Schultern, da wird mir jemand tragen helfen. Wohin wende ich mich eigentlich, wenn ich so verzweifelt bin, wie er es gerade ist?

„Und das macht alle vier Momentaufnahmen zu einem Ausdruck spiritueller Energie. Nicht, weil ich dabei war, sondern weil er es war.“

Hundertzwanzig Doppelschläge

Montagabend, es war eine lange Fahrt, aber jetzt bin ich da. Gerade noch rechtzeitig. Die Glocke läutet, nach wie vor von Hand, 120 Doppelschläge, ich knie in der Kapelle und merke, wie sich mit jedem Schlag der Glocke der meines Herzens anpasst. In Einklang kommt. Sich Ruhe in mir ausbreitet. Als die Schwestern beginnen, ihr liturgisches Gebet zu singen, höre ich erst nur zu, hänge mich dann ran, werde Teil des Ablaufs, finde mich schnell wieder zurecht in den sonst so ungewohnten Melodien. In der dann folgenden Stille ankert meine Seele vorne am Kreuz. Die letzten Stunden und Tage ziehen vor meinem inneren Auge vorbei, manches lässt mich für einen Wimpernschlag zucken, anderes zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Ich atme. Ich bin. Ich atme. Ein. Aus. Sehe den Bodensee, den jungen Mann an seinem Boot. Stille. Empfinde die erhabene Weite der Sauerländer Landschaft. Bin ruhig. Atme. Atme. Ein und aus. Mein Freund taucht auf, und ich spüre seine Last. Ich zucke kurz zusammen, als sein Schmerz zu meinem wird. Ich blicke zum Kreuz. Denke an den Schmerz Jesu. Bin still. Atme tief ein und wieder aus. Ganz bewusst. Ganz natürlich. Ganz still, ehrlich und spirituell.

Auf der Suche nach dem Wesentlichen

Was diese vier Situationen meines Alltags im Zeitraffer gemeinsam haben? Zum einen dies: Ich war bei allen dabei. Ich habe sie erlebt, war dort, war drin. Und dann: Er war es auch. Ich war nicht allein, zu keinem Zeitpunkt, habe jeden Augenblick in enger Verbundenheit mit ihm erlebt. Und das macht alle vier Momentaufnahmen zu einem Ausdruck spiritueller Energie. Nicht weil ich dabei war, sondern weil er es war. Meine Spiritualität hat nämlich ein Gegenüber. Spielte Jesus keine Rolle in meinem Sein, wäre alles irgendwie anders. Kleiner. Bedeutungsloser. Einsamer und nur auf mich fixiert. Dann würde ich Dinge wohl erleben, aber könnte sie nicht zuordnen und einordnen. Dann spielten sie nur für den Moment eine Rolle, aber nicht für die Ewigkeit. Dann wäre das Erlebte immer noch wahr und real, würde mich aber nicht in die Weite der Beziehungen zu Gott und Mensch führen. Wikipedia definiert es so: „Spiritualität ist die Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt.“ Noch besser gefällt mir aber dies: „Spiritualität heißt, sich auf der geistigen Ebene zu befinden, sich abheben vom Materiellen und Dogmatischen. Man befindet sich beim Wesentlichen, auf einer etwas höheren Bewusstseinsstufe des Menschen, die auf der Ebene der Seele entfaltet werden kann, wodurch man fähig wird, den göttlichen Plan zu verstehen.“

Der göttliche Plan. Ich atme tief ein, fülle meine Lunge erneut mit Sauerstoff und halte kurz inne, bevor ich langsam wieder ausatme. Einatmen, anhalten, ausatmen. Gott hat einen Plan. Für mich, für die Menschen um mich herum, für meine Familie, meine Stadt, mein Land. Und ich kann ihn begreifen, wenn meine Seele sich dort entfaltet, wo er sich aufhält. Am Bodensee. Im Sauerland. Im Büroalltag. In der Kapelle. Überall, wo ich bin. Wenn ich gemeinsam mit ihm dort bin.

 

Detlef Eigenbrodt, M.A., Leiter einer eigenen Agentur für Kommunikationsberatung und Redaktionsleiter dieses Magazins, träumt von einer eigenen Wohnung in Südafrika und freut sich bis zur Erfüllung an den herrlichen Plätzen in Deutschland. Der Ehemann und Vater von vier erwachsenen Kindern sitzt super gern in der Sonne seines Gartens am Rande des Odenwalds und stellt sich der Herausforderung des Alltags. myjabulani.com

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