Unser kleiner Horizont
Biografie
Was macht einen Menschen zu einer Persönlichkeit? Prägung, Erziehung, das soziale Umfeld? Wagemut, Hingabe, Überzeugung? Vertrauen, Entschlossenheit und Güte? Johanna Postelt stellt uns eine Frau vor, in deren Leben sich vermutlich all diese Faktoren zu einem Dienst verbinden, in dem das Wesen Gottes strahlt.
Das Leben von Amy Beatrice Carmichael lässt sich kaum auf einer Seite zusammenfassen. Sie wurde im Dezember 1867 als Älteste von 7 Kindern in eine christliche Familie in Irland geboren. Ihren Vater verlor sie bereits mit 18 Jahren. Kurz danach gründete sie als ganz junge Frau die „Welcome Evangelical Church“ – eine Kirche speziell für „Arbeitermädchen“, also für junge Frauen, die zur einfachen Schicht gehörten. Die Gottesdienste fanden so großen Zulauf, dass die Räume der Kirche, in der sie sich trafen, bald nicht mehr ausreichten. Amy kaufte daraufhin für 500 Dollar eine große Stahlhalle, die 500 Personen fasste. Die Kosten konnte sie nicht selbst tragen, aber sie erhielt Spenden über genau den Betrag, den sie brauchte.
Über mehrere Stationen kam Amy im Jahr 1898 nach Indien, wo sie eine Arbeit unter indischen Frauen begann. Schon bald wurde sie auf die Tempelmädchen aufmerksam und stellte fest, dass ihr Herz für diese schlug. Die Tempelmädchen waren Kinder, die von ihren Eltern an Hindutempel verkauft wurden, wo sie in Armut als Sklaven und Prostituierte arbeiten mussten. Noch während Amy überlegte, wie sie diese Mädchen aus den Tempeln befreien könnte, stand das erste Kind von alleine vor ihrer Tür – und damit begann ihre Arbeit. Um den Kindern zu helfen, scheute Amy keine Kosten oder Gefahren. Gott hatte ihr diese Mädchen aufs Herz gelegt und sie kämpfte trotz Anfeindungen und Strafandrohungen um jedes einzelne von ihnen.
Dabei gab sie sich große Mühe, sich an die indische Kultur anzupassen, trug indische Kleider und färbte ihre Haut mit Kaffeesatz, damit sie dunkler wirkte. Und es kam ihr zugute, dass sie braune Augen hatte. Als Kind hatte sie oft zu Gott gebetet, er möge ihr blaue Augen schenken, weil sie die schöner fand. Dann aber war sie dankbar, dass er dieses Gebet nicht erhört hatte. Bis zum Ende ihres Lebens, insgesamt 55 Jahre, blieb Amy Carmichael in Indien, wo sie vor allem in ihren letzten Lebensjahren an schwerer Krankheit litt.
Zwei Dinge gehen mir durch den Kopf. Zum einen sehe ich diese starke Frau, die so viel bewegte, die im Vertrauen auf Gott Geld ausgab, das sie nicht hatte, weil sie daran glaubte, dass Gott es ihr ersetzen würde. Eine Frau, die in die Fremde ging und nie für einen Heimataufenthalt zurückkam. Die trotz körperlicher Schwachheit ihr Leben Gott zur Verfügung stellte und damit ein Vorbild ist. Und auf der anderen Seite kann ich es mir nicht anders vorstellen, als dass Amy Carmichael oft einsam gewesen sein muss, so weit weg von der Heimat, ohne Partner, ohne eigene Kinder und noch dazu als Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Und ziemlich sicher war sie oft am Ende ihrer Nerven und Kraft. So eine Arbeit kann man nicht ohne größte körperliche und seelische Anstrengungen tun. Konnte Gott ihr alles, was ihr vielleicht fehlte, ersetzen, wie man als Frommer gerne denken würde? Ich bin nicht sicher. Ich vermute, dass sie in dieser Spannung lebte zwischen Wundern und Erschöpfung, zwischen Erfolgserlebnissen und unerfüllter Sehnsucht.
Und so ist es vielleicht, das Leben. Auch unser Leben. Selbst, wenn wir uns womöglich sicher sind, an dem Platz zu sein, an dem Gott uns haben möchte, können wir unter größter Anspannung stehen und viele Sorgen haben. Auch wir können das Gefühl haben, eben nicht alles zu schaffen, was wir gern schaffen würden. Selbst Menschen, die Großes vollbringen, tun dies oft nicht mit dem Gefühl, groß zu sein. Mir macht das Mut. Vielleicht sieht Gott am Ende unseres Lebens doch viel mehr in dem, was wir tun, als es uns heute mit unserem kleinen Horizont erscheint.
„Gott hatte ihr diese Mädchen aufs Herz gelegt und sie kämpfte trotz Anfeindungen und Strafandrohungen um jedes einzelne von ihnen.“
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