Jedem seine eigene?
Essay
Die kleine Heldin Astrid Lindgrens, die sich die Welt so macht, wie sie Lust darauf hat, die kennen Sie, oder? Aber darf sie das? Darf sich irgendwer etwas so machen, wie er es will? Losgelöst von Fakten, einfach dem eigenen Wunschdenken folgend? Unter Umständen ist das aber nicht die richtige Frage, meint Tim Niedernolte, wenn es um das Zusammenspiel von Wahrheit und Toleranz geht.
Es muss Anfang der 2000er Jahre gewesen sein – in irgendeinem leicht schmucklosen Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ich brauchte unbedingt noch diesen einen Schein für mein Literaturstudium und so habe ich dieses Proseminar besucht und eher widerwillig eine ungewollte Hausarbeit verfasst, die mich bis heute verfolgt: „Was ist ein digitales Bild?“ lautete die Frage, zu der ich mich damals auslassen durfte. Doch dann ist da diese eine These. Dass nämlich ein digitales Bild, egal wie perfekt der Ausschnitt auch immer sein mag und wie noch so hochauflösend die Kamera ist: in dem Moment, in dem das Bild erstellt wird, entspricht es schon nicht mehr der Realität – oder auch der Wahrheit – denn die Welt hat sich bereits weitergedreht, die Situation hat sich verändert und mit dem Einfrieren des Bildes hält eben dieses „nur“ noch einen bereits vergangenen Ausschnitt fest. Mögen die Veränderungen zur nächsten Sekunde auch noch so marginal sein – der hundertprozentigen Wahrheit entspricht es schon nicht mehr. Denn es ist bereits Vergangenheit.
Wahrheit und Toleranz
Spitzfindig? Pedantisch? Zu theoretisch? Vielleicht. Aber vielleicht auch hilfreich für den Zusammenhang von Wahrheit und Toleranz. Denn wenn genau genommen noch nicht mal ein hoch modernes Digitalfoto die Wahrheit abbilden kann (was ich bis zur besagten Seminararbeit durchaus gönnerhaft abgenickt hätte), wie sollen wir es dann können? So ganz ohne technische Hilfsmittel und im Normalfall sogar nur mit unseren Worten (und Gedanken)? Wie viel Wahrheit ist also überhaupt möglich? Gibt es DIE absolute Wahrheit denn tatsächlich? Schwierig, wenn man nicht gerade Gott heißt oder zufällig sein Sohn ist.
Vielleicht kennen Sie ja folgendes nettes, kleines Experiment, das gerne auch immer wieder in Journalistik-Kursen durchgespielt wird: da, wo mehrere Menschen zusammen sind, wird gemeinsam eine Situation beobachtet. Und anschließend soll jeder kurz aufschreiben, was er gesehen und wahrgenommen hat. Unter Garantie kommen dabei ebenso viele verschiedene Versionen heraus wie Menschen mitgemacht haben. Und alle haben Recht. Alle haben dasselbe gesehen. Und doch sind ihre jeweiligen Versionen davon ganz unterschiedlich. Und jetzt übertragen Sie dieses Wissen mal eben auf die Politik, den Journalismus, die Firma, Ihre Gemeinde, den Stammtisch oder die eigene Familie. Das mit der Wahrheit ist so eine Sache.
Vielseitig und komplex
Was also tun? Ich hätte da eine Idee: Toleranz first! (Und, wenn möglich, bitte ohne Aufschrei alias „Da macht er es sich jetzt aber schön einfach, der Niedernolte. Einfach jedem seine eigene Wahrheit zugestehen und erwarten, dass der andere die toleriert.“) Diese Angst brauchen Sie nicht haben, denn ich meine das nicht im Sinne eines Pippi-Langstrumpf-Plädoyers, bei dem (?) „man sich die Welt widdewidde macht, wie sie einem gefällt“. Darum geht’s nicht. Ein hochansteckendes Virus ist immer noch ein hochansteckendes Virus, die Erde ist ziemlich sicher keine Scheibe und der neu gewählte US-Präsident heißt tatsächlich Joe Biden.
Wahrheit ist wichtig und das Streben nach ihr unabdingbar und immer wieder notwendig. Aber wenn das abseits aller Fakten nun mal so schwierig ist mit der Wahrheit, warum versuchen wir es nicht öfter mal mit einer Fokus-Verschiebung hin zu mehr Toleranz? Und machen es uns damit leichter. Leichter im gegenseitigen Umgang miteinander in Bezug auf die Wahrheit. Und liebevoller. Denn es könnte ja sein, dass der andere auch Recht hat mit seiner Meinung. Mit dem, was er denkt, fühlt, wahrnimmt oder für sich als richtig erkannt hat. Warum denn nicht? Die Wahrheit ist vielseitig, komplex und hat in den meisten Fällen Raum für mehrere Wahrnehmungen. Toleranz heißt, andere Meinungen – sofern sie nicht menschenverachtend sind – wahrnehmen und stehenlassen zu können. Nehmen Sie z. B. die Sache mit dem Streit. Wenn eine solche Auseinandersetzung hochkocht, dann brodelt es in einem, weil man nun mal so sehr Recht hat. Der andere für sich aber auch. Und schlimmstenfalls sogar beide. Klassiker. Und in der Regel erst dann lösbar, sobald es nicht immer nur darum geht, den anderen zu übertrumpfen, kleinzumachen oder mit dem Ellenbogen wegzudrängen.
„Die Wahrheit ist vielseitig, komplex und hat in den meisten Fällen Raum für mehrere Wahrnehmungen. Toleranz heißt, andere Meinungen – sofern sie nicht menschenverachtend sind – wahrnehmen und stehen lassen zu können.“
Ich habe Recht!
Wie oft pochen wir auf unser Recht und erheben unsere Meinung und subjektive Wahrheit zur allgemein gültigen? Dass dies aber einschließt, dass ich auch die Rechte meiner Mitmenschen im Blick behalte und deren Gefühle nicht verletze, wird schnell vergessen. Die eigenen Bedürfnisse zu artikulieren, ist das Eine. Aber wir müssen uns auch fragen, wie diese mit denen meiner Mitmenschen zusammenpassen. Als Menschen müssen wir weiter denken als bis zum eigenen Gartenzaun. Wie wäre es also, wenn es bei diesem durchaus sehr komplexen und tiefen Thema erst mal nicht nur darum geht, den anderen zu übertrumpfen, kleinzumachen oder seine Wahrheit in Frage zu stellen, sondern mehr Toleranz und Wertschätzung walten lassen? Denn auch in einem Konflikt kann man das Gegenüber als Respektsperson wahrnehmen, ohne die eigenen Ideale, Meinungen und Absichten über Bord zu werfen.
Wie schön, dass „Die Prinzen“ passend zum Erscheinen dieses Magazins und zum Finale dieses Textes ihr 30-jähriges Jubiläum feiern und gerade einen neuen Song veröffentlicht haben. Gelesen wirkt er natürlich längst nicht so wie gesungen von den Leipziger Jungs. Aber ziemlich treffend ist er auch so:
„Manche glauben, dass die Welt sich gegen sie verschwört. Manche meinen, dass die Wahrheit doch nur ihn'n gehört. Manche sagen, was sie denken, dann sagen sie danach, dass man heutzutage ja nichts mehr sagen darf. Dürfen darf man alles, müssen muss man nichts. Können kann man vieles, doch was woll'n wir eigentlich? Keiner muss ein Schwein sein, denk nicht an dich allein', wenn das der Fall ist, dann sag' ich: Dürfen darf man alles.“
In diesem Sinne: Haben Sie Mut zur Wahrheit – aber bitte mit etwas mehr Respekt und Toleranz!
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