Ich dachte das sei die Strafe
Persönlich
Von einem Moment auf den anderen steht die Welt Kopf. Was eben noch galt, ist abgelaufen. Man meint, man hätte es im Griff und hat es doch nicht. Wie real und endgültig sich Dinge ändern, wie unbarmherzig und grausam der Alltag plötzlich sein kann, wie schier ausweglos und unmöglich ein „weiter so“ sein kann – unsere Autorin hat es erfahren und schreibt über Erlebnisse, die Jahrzehnte zurückliegen und heute noch manchmal an die Tür klopfen.
Im Frühjahr 1978 unternahm unsere Jugendgruppe eine Wochenendfreizeit in den Schwarzwald. Drei Monate zuvor hatte ich den Führerschein gemacht und fuhr, gegen den Rat meiner Eltern, mit meinem sehr alten VW Käfer und drei Mitfahrern dorthin. Kolonne fahren auf der Autobahn klappte ganz gut. An einem der Tage dort starteten wir zu einem Ausflug. Ich nahm meine Freundin und deren Freund sowie einen fünfzehnjährigen Jungen aus der Jugend mit. Auf einer abschüssigen Straße merkte ich, dass die Fußbremse nicht mehr griff. Nach mehrmaligem Pumpen schien sie wieder in Ordnung zu sein, doch als ich wieder bremsen musste, ging gar nichts mehr. In Sekundenschnelle musste ich reagieren: neben mir war ein Abgrund, vor mir ein Traktor mit Miststreuer und auf der Gegenfahrbahn ein entgegenkommendes Auto. Um nicht auf den Miststreuer aufzufahren, steuerte ich rechts am Traktor vorbei und riss das Lenkrad nach links, weil vor mir der VW Bus der Jugendgruppe fuhr. In dem Moment stieß das entgegenkommende Auto in unsere Beifahrerseite und wir schlugen mit der Fahrerseite auf einer Wiese auf. Wir waren im Auto eingeklemmt, bis jemand die Beifahrertür aufbekam. Insgesamt wurden vier Personen schwer verletzt und zwei leicht. Mein Beifahrer starb nach zwei Stunden an den Folgen seiner schweren Verletzungen.
Gesprochene Urteile
Meine Familie machte mir keine Vorwürfe, obwohl sie das sicher hätte tun können. Ich glaube, sie merkten, wie schlecht es mir ging. Sie halfen mir auch oft praktisch, indem sie mit mir Hunderte von Kilometern zum Anwalt und zur Gerichtsverhandlung fuhren. Meine Gemeinde betete sonntags im Gottesdienst für uns und sicher auch viele andere Menschen. Meine schwerverletzte Freundin unterstützte mich sehr, auch während der Gerichtsverhandlung. Sie stand mir bei. Dadurch litt auch die Beziehung zu ihrem Freund und sie trennten sich. Heute aber sind sie seit fast vierzig Jahren glücklich verheiratet. Als ich meine Freundin einmal mit dem Rollstuhl schnell übers Krankenhaus-gelände schob, wurde ich zur Leitung der Krankenpflegeschule gerufen, in der wir einige Monate vorher die Ausbildung zur Krankenschwester begonnen hatten. Sie rügten mich und wiesen mich an, dies zu unterlassen, ich hätte doch schon genug Schaden angerichtet. In direktem Kontakt mit Angehörigen wurden mir keine Vorwürfe gemacht. Zwei Familien traten als Nebenkläger auf, ich wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.
„Wir haben angefangen, im Krankenzimmer laut Lieder zu singen. Ich glaube, wir wollten uns dadurch trösten und uns Mut machen für das, was noch kommen würde.“
Geschenkte Vergebung
Ich machte mir große Vorwürfe, überhaupt gefahren zu sein und nicht auf den Rat meiner Eltern gehört zu haben. Ich dachte, das sei jetzt die Strafe dafür. Auch dass ich nach dem ersten Stottern der Bremse nicht angehalten hatte, konnte ich mir nicht verzeihen. Aber eins habe ich verstanden, nachdem ich Jesus um Vergebung gebeten hatte: Zumindest seine Vergebung war mir sicher. So unvorstellbar das auch ist! Die Unbeschwertheit meiner Jugend war jedoch mit der Nachricht vom Tod meines Beifahrers sofort weg. Trotzdem haben wir im Krankenzimmer angefangen, laut Lieder zu singen, so dass die Krankenschwestern die Zimmertüren aufmachten. Ich glaube, wir wollten uns dadurch trösten und uns Mut machen für das, was noch kommen würde. Es war ein schwerer Weg, dazu zu stehen, dass ich den Unfall verursacht hatte. Laut Anwalt hätte ich mich nicht belasten müssen, aber das kam für mich nicht in Frage. Der Mutter meines verstorbenen Beifahrers schrieb ich einen Brief, bekam aber nie eine Reaktion darauf. Zu schwer muss ihr Schmerz gewesen sein. Als mein Sohn 15 Jahre alt wurde, habe ich gedacht: Was würde ich machen, wenn er jetzt sterben würde? Wie würde ich mich fühlen? Das hat mich eine Zeitlang sehr beschäftigt. Bis heute kämpfe ich mit Ängsten und Panikattacken. Ich steige in kein Fahrzeug, ohne zu denken, es könnte etwas passieren. Aber in und mit allem lebe ich weiter.
Nach dem Unfall haben wir uns in der Jugendgruppe über unseren so liebenswerten Freund unterhalten, der damals als einziger aus seiner Familie zu Jesus gefunden hatte. Wir haben uns damit getröstet, dass er jetzt bei Jesus ist, und ich freue mich darauf, ihn dort wiederzusehen. Das lässt mich ruhig sein.
Magazin Winter 2020
Die Autorin ist der Redaktion persönlich bekannt – dieser Beitrag erscheint zum Schutz der betroffenen Familien anonym. Dafür bitten wir um Ihr Verständnis.
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