Das Messer auf der Brust
Persönlich
Eiskalt läuft ihr ein Schauer den Rücken runter. Sie traut ihren Ohren kaum. „Was wird hier gerade gespielt? Was passiert mit mir?“, fragt sie sich. Angst und Panik steigen in ihr auf, irritiert und verzweifelt meint sie, im falschen Film zu sein. Was viel zu vielen im sogenannten Alltag den Boden unter den Füßen wegreißt, fasst sie in Worte. Und dass der Schmerz nicht automatisch weggeht, auch. Von Maike Fethke.
Ich sitze vor meinem Arbeitgeber, dem Personalchef eines international aufgestellten Unternehmens. Viele Jahre schon bin ich in dieser Firma, habe gute und schlechte Zeiten miterlebt, habe immer „irgendetwas“ geleitet. Ein erfolgreiches Projekt, eine wachsende Abteilung, einen ganzen Bereich. Ich wurde befördert, genoss viel Vertrauen, von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von der Geschäftsführung, vom Vorstand. Ich liebte, was ich tat. Und jetzt das: Mein Personalchef, ein Mitarbeiter, für dessen Einstellung ich mich vor Jahren stark gemacht hatte, teilt mir mit: Entweder ich gehe auf die neue Position, die man mir anbietet. Oder ich müsse die Konsequenzen tragen und mich umorientieren.
Bitter wie Galle
Das sitzt. Es ist wie ein Stich mitten ins Herz. Dieser Mensch, mit dem ich Jahr um Jahr erfolgreich zusammengearbeitet habe, für den ich gekämpft und mich eingesetzt habe, der sagt mir jetzt: „Friss oder stirb.“ Friss, was du nicht magst, aber dann wirst du satt. Oder stirb. So kommt es mir in dem Moment vor. Ich erbitte mir Bedenkzeit, suche Gespräche, will den Hintergrund verstehen. Verzweifelt nehme ich ein paar Tage später die neue Stelle an, ringe mit Gott, ob dies der Platz ist, an dem er mich haben will. Doch ich finde keinen Frieden. Und ich merke jedes Mal, wenn ich meinem Kollegen, der mir das „Messer auf die Brust setzte“, begegne, steigt in mir Groll auf. Bitter wie Galle. Voller Schmerzen. Wie eine Welle, die am Horizont klein erscheint und mich dann doch mit voller Wucht überrollt, mir die Füße wegzieht.
Nach neun Monaten wechsle ich erschöpft und ausgebrannt den Arbeitsplatz. Meinen Wohnort. Ich lasse fast alles hinter mir in der „alten Stadt“. Doch unbewusst sind der Groll und die Verletzungen im Koffer mit in die andere Ecke Deutschlands umgezogen. Obwohl ich mich von vielem äußerlich befreit habe, bin ich davon nicht frei. Ich merke, ich muss, ich will, ich möchte vergeben. Es dauert nicht lange, bis mein Verstand mir sagt: „Maike, wenn du von Groll und Schmerzen frei werden willst, dann bring sie vor Gott. Lass sie los. Vergib dem Menschen, der dir das angetan hat.“ Und ein Gedanke verknüpft sich für mich fast automatisch damit: „Wenn du das tust, dann geht es dir besser. So wird es kommen.“
„Meine Hoffnung, dass ich mich nun besser, freier, heiler fühlen würde, erfüllt sich nicht. Mein Verstand weiß zwar, dass ich vergeben habe. Doch meine Gefühlswelt tickt anders. Sie fühlt es nicht.“
Ich verbrenne es
Soweit die Theorie: Was ich heute an meinem Schreibtisch in diesem Artikel schreibe, war damals schwer in die Tat umzusetzen. Der erste Schritt, Groll und Schmerzen vor Gott zu bringen, der ist mir möglich. Ich fasse die quälenden Erinnerungen in Worte. Ich spreche sie vor Gott aus. Immer wieder. Nicht nur einmal an einem bestimmten Tag, sondern immer dann, wenn ich merke, dass diese unliebsamen Wegbegleiter „anklopfen“. Ich versuche mir vorzustellen, dass mit jedem Aussprechen vor Gott die Last auf meiner Seele leichter und leichter wird. Im Rahmen einer Seelsorge-Weiterbildung erlebe ich, wie wunderbar es ist, meine Gedanken niederzuschreiben und sie im wahrsten Sinne des Wortes in die Hand zu nehmen. Jeder Aspekt des Schmerzes wird zu einem eigenen kleinen Kärtchen, in orange und braun und beige. Einige nagle ich mit entschlossenen Schlägen an ein großes Kreuz. Ein anderes zerreiße ich und lasse die Schnipsel vom Wind wegtragen. Und das letzte Kärtchen verbrenne ich. Ich zünde es an, über einer Feuerschale. Halte es noch einen kleinen Moment in der Hand und lasse es dann fallen. Es krümmt sich, die Ränder rollen sich auf, das Papier zerfällt. Zurück bleiben graue Krümel. Das Alte ist tatsächlich vergangen.
Soviel zu dem Entschluss, allen Frust immer wieder vor Gott abzuladen. Ich weiß, dort ist er gut aufgehoben. Noch unbearbeitet hingegen, wie ein offenes „To Do“, ist meine feste Absicht, der betreffenden Person zu vergeben. Wie kann das gelingen? Schnell entdecke ich, dass dieses Anliegen die „größere Herausforderung“ ist. Ich bete. Ich sage Gott, dass ich dem Kollegen vergebe. Und ich meine es wirklich so. Das tue ich einmal, zweimal, dreimal. Immer wieder. Doch meine Hoffnung, dass ich mich nun besser, freier, heiler fühlen würde, erfüllt sich nicht. Mein Verstand weiß zwar, dass ich vergeben habe. Doch meine Gefühlswelt tickt anders. Sie fühlt es nicht.
Der Schmerz bleibt
Eines Tages mache ich mich auf zu diesem Kollegen, vereinbare einen Gesprächstermin. Es hat mich große Überwindung gekostet. Wir treffen uns auf einen Kaffee. Schnell komme ich auf den Punkt, gucke ihm in die Augen und sage: „Ich habe dir die Verletzung von damals vergeben. Ich möchte, dass du das weißt.“ – Er guckt mich überrascht an, fast so, als ob er erst in der Erinnerung graben müsse. Dann sagt er: „Ach so. Ja, ja, wenn dir das wichtig ist, dann ist es ja jetzt gut.“ Kurz darauf gehen wir auseinander. „Ja jetzt gut“ – das erlebe ich so nicht in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten. Stattdessen erlebe ich, dass dieser Gedanke, ihm zu vergeben, immer wieder in mir anklopft. Immer dann, wenn alte Bilder hochschwappen und die Erinnerung an Groll und Schmerzen in meinem Hinterkopf aufscheint.
So ist es bis heute geblieben. Ich weiß, ich habe die Last bei Gott abgeladen. Ich weiß, ich habe vergeben, so wie es mir möglich war. Ich weiß, dass nicht mehr ich den „Hut aufhabe“, sondern dass er bei Gott liegt. Ich habe gelernt, dass ich immer wieder vergeben muss. Oder immer wieder vergeben darf. Heute weiß ich, dass Gott an mich gar nicht den Anspruch hat, dass mir Vergeben „beim ersten Mal“ gelingen muss. Ich darf es immer wieder tun, sozusagen in Etappen. Inzwischen habe ich Frieden darüber, dass es einen Schmerz gibt, der zu diesem Ereignis gehört und der auch in der Erinnerung auftauchen darf. Und ich habe gelernt, dass Gott seinen Teil zum Vergeben beiträgt.
Seit ich „umgedacht“ habe, haben Groll und Schmerz an Macht und Reichweite verloren. Sie sind wie Schatten in der Vergangenheit. Doch sie verdecken nicht mehr die helle Sonne.
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