Wer braucht eine mutlose Kirche?
Plädoyer
Manchmal tut man das ja: sich fragen, wie es wohl in ein paar Jahren oder Jahrzehnten aussehen wird. Zum Beispiel mit der Kirche als solches, übergreifend und nicht nach Denominationen getrennt. Wir baten Jürgen Schulz um eine Einschätzung, wie das in 25 Jahren in Deutschland aussehen könnte. Und er fand klare Worte.
Zugegeben: Als Gemeindegründer und Pastor einer jungen Kirchengemeinde in einer Großstadt habe ich eine Vision. Es ist die Aufgabe von Pastoren und Leitern, zielstrebig in die Zukunft zu gehen. Dafür braucht es eben eine Vision. Aber ich weiß auch, dass eine Vision der Dynamik einer Gemeinde immens schaden kann. Kirche ist zu einzigartig, als dass wir sie auf unsere Vision reduzieren dürften. Kirche ist kein Marketingprodukt und eine Neugründung einer Gemeinde nicht mit dem neuesten Start-Up vergleichbar. Ja, ich habe eine Vision für mein Leben, für Paderborn und auch einen Traum für Deutschland. Und gleichzeitig stimme ich Helmut Schmidt zu, der mal sagte: „Wer eine Vision hat, soll zum Arzt gehen.“ Und genau in dieser Spannung stand die Kirche seit jeher.
Deprimierend! Voraussichtlich!
Wo wird die Kirche also in Deutschland in 25 Jahren stehen? Die Tendenz im Land stimmt traurig. Vor einigen Wochen ist die Habilitationsschrift von Philipp Bartholomä erschienen: „Freikirche mit Mission: Perspektiven für den freikirchlichen Gemeindebau im nachchristlichen Kontext.“ Der Untertitel bringt unsere Situation in Deutschland auf den Punkt. Unser christlicher Kontext ist Geschichte. Wir leben in einem Deutschland, das nachchristlich ist. Die beiden großen Kirchen verloren 2018 noch mehr Mitglieder als 2017. Die Zahl sank bei den Protestanten um 395.000 und bei den Katholiken um 309.000 Personen. Die Tendenz ist deprimierend, mittlerweile aber nicht mehr erschreckend neu: die großen Kirchen verlieren seit 1970 kontinuierlich Mitglieder!
Das „Forschungszentrum Generationenverträge“ der Universität Freiburg hat im Mai 2019 eine ernüchternde Prognose präsentiert: bis zum Jahr 2035 werden die Kirchen um 22 Prozent und dann bis zum Jahr 2060 um 49 Prozent schrumpfen – voraussichtlich. Diese Tendenz ist traurig, weil die Auswirkungen in unserer Gesellschaft gravierend sein werden. Fest verankert im deutschen Grundgesetz ist nämlich das sogenannte Subsidiaritäts-Prinzip. Zahlreiche gesellschaftliche Aufgaben werden von den Kirchen anstelle des Staates übernommen: Kindertagesstätten, Krankenhäuser, Senioren- und Pflegeeinrichtungen, Erwachsenenbildung – um nur einige zu nennen. Die Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie sind zusammengenommen die größten Arbeitgeber Deutschlands. Schrumpfen die Kirchen, schrumpfen auch die Finanzierungsmittel- Und damit werden nicht nur die Wohlfahrtsverbände langfristig weniger Mitarbeiter anstellen können. Die Anzahl der Einrichtungen wird zurückgehen, was letztlich zur Folge hat, dass gesellschaftliche Bedürfnisse nicht mehr gestillt werden können – voraussichtlich. Die Tendenz stimmt aber auch deshalb traurig, weil es um mehr geht als nur um unsere deutsche Geschichte, die zutiefst christlich ist. Es geht um mehr als um die Gesellschaft, die mehr vom christlichen Glauben profitiert, als sie es sich heute eingestehen möchte. Die Tendenz stimmt traurig, denn mit jeder geschlossenen Kirche verschwindet ein Ort, an dem Menschen den Glauben an Jesus Christus fanden, und damit Hoffnung im Leben und Sterben. Eine traurige Tendenz, denn der Verlust ist so viel tiefgreifender als nur der kulturelle Verlust eines Jahrhunderte alten Gebäudes. Voraussichtlich!
Was taugen Prognosen für den Alltag?
Die Tendenz stimmt traurig, denn gerade die sogenannte Generation Y (1980er bis 1990er Geburtsjahrgänge), die Sinnsucher-Generation, sucht überall, nur eben nicht mehr in der Kirche. Aber gerade da, wo Menschen nach Antworten auf die großen Lebensfragen suchen, hat die Kirche doch ihren Platz. Dort gibt sie durch das Evangelium Orientierung, stiftet Frieden und schenkt bleibende Hoffnung. Oder besser gesagt: Gerade da sollte die Kirche tiefgreifendem Zweifel Raum geben (Judas 22) und fähig sein, Antworten auf die gestellten Fragen zu geben (1.Petrus 3,15-16). Aber sie tut es immer weniger. Sie entwickelt Visionen, verliert jedoch die Basis aus den Augen. Unter den Gläubigen, die noch nicht ausgetreten sind, wächst die Frustration. Eigene Rettungsschiffe im Mittelmeer und Maria 2.0 geben den Menschen eben nicht die Kraft, die sie für ihren Alltag brauchen. Und nein, die Antwort heißt nicht: Freikirche. Dafür muss man nur Philipp Bartholomäs Studie zur Hand nehmen.
Wo steht die Kirche also in Deutschland in 25 Jahren? Nach allen Prognosen und zugänglichen Statistiken sieht das Bild düster aus. Aber genau da liegt das Problem: Prognosen und Statistiken bestimmen unsere Visionen! Nach allen Statistiken und Prognosen wäre auch Jesus von Nazareth immer noch im Grab. Ist er aber nicht! Nach allen Statistiken und Prognosen hätte der Apostel Petrus nie auf dem Wasser gehen können. Konnte er aber! Und nach allen Statistiken und Prognosen hätte der christliche Glaube schon direkt in den Anfängen vernichtet sein müssen. Doch Gott bindet sich nicht an Statistiken und Prognosen. Ihm ist alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben. Darum gehen Christen bis ans Ende der Welt und machen alle Völker zu Jüngern (Matthäus 28,18-20). Das ist eine Vision!
„Die Kirche, die in den nächsten 25 Jahren nicht weiter den Statistiken und Prognosen folgen will, tut gut daran, sich gerade an diesem Auftrag wieder neu auszurichten. Mutig. Freudig. Bekennend. Denn die Gesellschaft braucht zwei Dinge von der Kirche sicherlich nicht: eine Kirche, die sich in ihren Überzeugungen von der Gesellschaft leiten lässt und dabei jegliche Orientierung an ihrem Bekenntnis verliert. Und eine Kirche, die dabei noch mutlos und traurig ist. “
Die Gemeinde Jesu ist unüberwindbar!
Ein Antwortversuch gegen diese düsteren Prognosen – und ja, die Zahlen sind real – muss mit dem Ursprung des christlichen Glaubens beginnen. Mit dem Eckstein. Mit dem Erlöser. Mit dem, nach dem wir benannt worden sind: Jesus Christus. Uns Christen bestimmt eine Hoffnung, die die Zukunft der Kirche eben nicht an die irdischen Umstände knüpft. Das Grab ist leer! Und die Zusage Gottes steht: die Gemeinde Jesu ist unüberwindbar! Jesus hat dem Apostel Petrus die Zusage gegeben: „Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen und alle Mächte der Hölle können ihr nichts anhaben.“ Und auf dem Bekenntnis von Petrus stehen seither alle Christen: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matthäus 16,16-18). Keine Gemeinde hat ihren Ursprung in ihrer Vision. Über jede Kirche sagt Jesus, es ist meine Gemeinde. Und wenn es nicht mehr Jesu Kirche ist, hat die Gemeinschaft aufgehört, Kirche zu sein. Die Kirche der Zukunft kennt ihren Ursprung.
Und nicht weniger entscheidend ist für die Kirche der Zukunft ihre Geschichte. Schon im Neuen Testament wird die Gemeinde daran erinnert, dass sie in einer Tradition steht. Jeder innovative Gemeindegründer und jede engagierte Initiative zur Neubelebung des Gemeindelebens darf dies nicht aus den Augen verlieren. Die Bibel schweigt nicht darüber, wie wir Kirche gestalten sollen! Seit 2000 Jahren wird diese Handwerkskunst gepflegt. Und das Kirchenschiff steht und wächst dort stabil, wo weiterhin auf dem einen Fundament
gebaut wird. Denn „wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein“ (Epheser 2,20). Bei allen guten Visionen für den christlichen Glauben brauchen wir ein gutes Verständnis für unsere Zunft. Ein Architekt mag die innovativsten Ideen haben, wenn sie technisch nicht umsetzbar sind, sind sie nicht mehr als nur Ideen.
Es kommt auf die Tradition des Glaubens an
Judas 3 gibt uns eine Aufforderung mit auf den Weg, die die Kirche der Zukunft beherzigt: „Ich muss euch auffordern, für die Wahrheit der Botschaft zu kämpfen, die Gott ein- für allemal denen geschenkt hat, die ihm gehören“. Bei der Wahrheit der Botschaft geht es um den Glauben. Dieser Glaube wurde uns ein- für allemal geschenkt. Wir haben diesen Glauben nicht entwickelt. Er wurde uns überliefert! Die Tragweite dieser Aussage ist enorm: wir entscheiden nicht, woran Christen glauben! Und: wir stehen in einer Glaubenstradition! Will die Kirche eine Zukunft haben, gibt sie diese Glaubenstradition an die nächste Generation weiter. Innovativ und kreativ, aber eben auch vollständig. Wenn Kreativität und Innovation wichtiger werden als die Glaubenstradition, hat die Kirche genauso ihre Zukunft verspielt wie die Kirche, die krampfhaft an ihren Traditionen festhält. Dabei geht es erst einmal nicht um die traditionellen Formen der Musik, von liturgischen Abläufen oder dergleichen.
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Meine Vision für die Kirche der Zukunft in Deutschland ist eine Kirche, die die Aufgabe wieder neu annimmt, die Spannung auszuhalten: sie tritt in Aktion und betet. Nur zu beten und nicht neu nach kreativen Wegen zu suchen, um das nachchristliche Deutschland mit dem Evangelium zu erreichen, ist dabei genauso ein fataler Irrweg wie sich im Aktionismus zu überschlagen. Vergessen wir eines nie: Gott rettet Menschen und „der Wind weht, wo er will.“ Wir spüren ihn, hören ihn, aber wir steuern ihn nicht. Wir können „nicht erklären, wie die Menschen aus dem Geist geboren werden“ (Johannes 3,8). Also beten wir. Und hören nicht mehr auf zu beten.
Uralt, aber nicht gealtert!
Und genauso halten wir die Spannung zwischen Innovation und Tradition. Es wäre fatal, die neuen, innovativen Möglichkeiten für die Verkündigung des christlichen Glaubens nicht zu nutzen: Podcasts, Videocasts und was es nicht alles gibt. Mediale Elemente in den Gottesdienst einzubauen, hat genauso Platz wie das apostolische Glaubensbekenntnis. Die Kirche ist zwar uralt, aber sie muss dabei nicht altern. Halten wir also nicht an traditionellen Formen um der Tradition willen fest. Und bei aller Innovation müssen wir um unserer Zukunft willen darauf achten, dass wir die apostolische Glaubenstradition nicht verlieren. Wir dürfen nicht so frei werden, dass wir vergessen, was es bedeutet, Kirche zu sein.
Wo wird die Kirche in Deutschland in 25 Jahren stehen? In Zahlen bemessen, weiß ich es nicht. Denn ich weigere mich, den Statistiken und Prognosen zu folgen. Das Grab ist leer! Gott hatte schon immer die Eigenart, uns Menschen zu überraschen. Und wer weiß, was noch alles in unserem Land passiert, wenn wir Christen uns immer wieder neu an den Ursprung des Glaubens erinnern und kreativ und innovativ für den Glauben eintreten, der uns ein- für allemal überliefert worden ist?
Magazin Winter 2019
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