Rentner, Ruhe, richtig glücklich?
Essay
Man hört viel von Überalterung der Gesellschaft, und manchmal klingt es wie eine Krankheit, die man lieber nicht bekommen möchte. Aber wie so vieles, kann man sich eben auch das nicht aussuchen. Macht aber nix. Denn wie an nahezu allem, lässt sich auch hier das Wunderbare finden, das Schöne, Einzigartige. Andreas Malessa, selbst konzentriert auf diesen Lebensabschnitt zulaufend, hat sich für uns auf die Suche gemacht.
Jedes Jahr gehen rund 750.000 Beamte und Angestellte und etwa 400.000 Arbeitnehmer in Rente, davon zwei Drittel Männer. Endlich Feierabend! Freizeit bis zum Horizont! Die Stimmung unter ihnen müsste bombig sein, denn es gibt ihn ja noch: Den von der Arbeitsverdichtung erschöpften, von der Digitalisierung überforderten, vom Betriebsklima genervten 62-Jährigen, der sich auf die Rente freut wie ein Kind auf Heiligabend.
Noch ein Vierteljahrhundert
Aber: sie alle – ob mit „goldenem Handschlag abgefunden“ oder armutsgefährdet – machen einen Schritt in die Zukunft, der schwerwiegender sein kann als Pubertät, Heirat oder Elternschaft. Und diese ungeübte Zukunft wird länger: im Jahre 1910 lag die durchschnittliche Lebenserwartung von männlichen Neugeborenen bei 47 Jahren, was statistisch der hohen Säuglingssterblichkeit und körperlich auszehrenden Berufen geschuldet war. Heute werden Männer durchschnittlich 77 Jahre alt, Frauen 82,6 Jahre. Jedes ab 2010 geborene Mädchen wird mit 50 prozentiger Wahrscheinlichkeit älter als 100 werden! „Grob gesprochen, ist damit ein heute 50-Jähriger so fit wie 1970 ein 40-Jähriger. Ein heute 65-Jähriger ist so gesund wie ein damals 55-Jähriger.“1 Topfit hinein in voraussichtlich 25 Jahre Erwerbslosigkeit also?
Mehr Zeit, weniger Bedeutung?
Er und sie haben sich vielleicht ehrlich auf den Ruhestand gefreut. Mehr Zeit füreinander haben. Mehr miteinander unternehmen. Mehr gemeinsam erleben. Kreuzfahrt machen, Camper kaufen, Garten pflegen. Aber schon vor 20 Jahren empfanden „nur 3 % der Paare den Ruhestand als Bereicherung ihrer Beziehung“2 – also konnten 97 % nicht feststellen, dass mehr Zeit füreinander automatisch auch mehr Glück miteinander bedeutete. Warum nicht? Weil ER jetzt entdeckt, wie viel mehr Haus- und Familienarbeit erforderlich ist, als er dachte. SIE erwartet nicht ernsthaft, dass sie jahrzehntelang bewährte Arbeitsweisen und Handgriffe über Nacht ändern muss, nur weil ihr Mann neuerdings ja auch Zeit dafür hätte. Warum sollte sie ihm Teig-Rührgerät, Waschmaschine, Tümmler und Thermomix, die korrekte Entnahme des Staubbeutels aus dem Sauger, das Entkalken des Kaffee-Automaten und die Reinigung des Backofens erst lang und breit erklären? Nur: Er schaut ihr jetzt bei alledem zu … In seiner mangelnden Alltagskompetenz treten Konflikte auf, die nur scheinbar banal sind, weil sie zu winzigen Bruchlinien des Selbstbewusstseins werden können. „Wann kapiert er es endlich? Wo er doch in seiner Firma ganze Walzwerke ans Laufen brachte!“
„Im Beruf wurde sein Selbstbewusstsein von der Fachkompetenz und vom Gehalt gesichert. Zu Hause hauptsächlich von der Geschicklichkeit im Urteil seiner Frau.“
Im Beruf wurde sein Selbstbewusstsein von der Fachkompetenz und vom Gehalt gesichert. Zu Hause hauptsächlich von der Geschicklichkeit im Urteil seiner Frau. Männer in Rente beschweren sich aber nicht darüber. Weil sie ihren Statusverlust weder benannt noch behandelt kriegen wollen. Schon gar nicht im Opfer-Modus oder unter dem Verdacht der Hilfsbedürftigkeit! Das ist der markanteste Unterschied zu Frauen gleichen Alters: die finden zeitweilige Hilfsbedürftigkeit keineswegs ehrenrührig und haben bestenfalls schon früher freimütig über Wechseljahre, das „Empty Nest Syndrom“ der ausziehenden Kinder oder schmerzliche Zurückweisungen als Schwiegermütter und Omas sprechen gelernt.
Mehr Beachtung, weniger Frust?
Eine der Eigenschaften, für die sie ihn von Herzen liebt, war, dass er im Beruf geschätzt, belohnt und belobigt, manchmal sogar bewundert wurde. Sie hat seine beruflichen Misserfolge mit erlitten, seine beruflichen Erfolge und Vorteile mit genossen. Wenn ihm der Chef anerkennend auf die Schulter klopfte und zum Geburtstag sagte „hinter jedem erfolgreichen Mann steckt eine starke Frau“, war das zwar eine Binsenweisheit, aber ein bisschen gefreut hatte es sie schon. Ein kleines Stück ihres eigenen Ehrgeizes hatte sie auf ihn übertragen, oder? Psychologen nennen das „komplementären Narzissmus“. Jetzt, so ganz ohne Berufsbezeichnung, nur noch selten in Anzug und Krawatte, nie mehr frühmorgens zu ihr hinaufwinkend und mit dem Dienstwagen davonbrausend – also da macht er schon, nun ja, wie soll man sagen, ein bisschen weniger her. Nicht als Mensch natürlich, aber als … Mann.
Die „Sprache der Liebe“ verändert sich. Das Candlelight-Dinner, das er früher seinem Projekt, dem Chef und den Kollegen zeitlich abgetrotzt hatte, ist jetzt sieben Abende die Woche möglich. Aber ist es deshalb nichts Besonderes mehr? Wertschätzende Blicke, ehrliche Komplimente, kleine Alltags-Zärtlichkeiten, viel Humor, unerwartete Hilfeleistungen, großzügigere Bereitschaft zu vergeben nach einem Streit – es gibt viele „reizvolle“ Impulse zwischen Mann und Frau, die ihre Liebe zueinander lebendig halten. Trotz abnehmender sexueller Erregbarkeit. Es ist meist falsch, dies als Verlust zu werten, weil man nicht mehr begehrt wird, oder als Beweis verschwundener Liebe. Die Verlagerung der gegenseitigen Anziehungskraft von der genitalen Sexualität zu einer ganzheitlicheren erotischen Aufmerksamkeit ist ein vielleicht schmerzhafter, immer aber lohnender Prozess. Er könnte nämlich die vielzitierte Katastrophe verhindern, dass entweder er sich „eine Jüngere nimmt“ oder sie sich trennt.
Hoch lebe das Ehrenamt
Es gab 2018 in Deutschland 17,5 Millionen Menschen, die älter als 65 waren. Wegen der geburtenstarken Jahrgänge Mitte der 60er wird sich ihre Zahl bis 2030 mehr als verdoppeln, sagen Statistiker, und immer wird sorgenvoll bis panisch gefragt, wovon diese geschätzt 40 Millionen Rentner leben sollen. Kaum einer fragt, wofür sie leben wollen, was sie zu tun vorhaben. Es gibt rund 550.000 Vereine in Deutschland und – es gibt zigtausende Kirchen und Gemeinden mit zukünftig akutem Personalmangel. Die Möglichkeiten, aus ehrenamtlicher Tätigkeit sowohl Erfolgserlebnisse als auch Selbstwert zu gewinnen, sind also grenzenlos.
„Frischgebackene“ Rentnerinnen und Rentner mögen den Satz nicht „Jetzt, wo Du Zeit hast, könntest Du doch …“ Weil ja erstmal zigtausend Urlaubs-Dias digitalisiert werden müssen, der Garten einen Geräteschuppen und die Enkel einen Hasenstall brauchen. „Alte“, also bereits mehrjährig pensionierte Rentner, könnten aber entdecken, wie wohltuend, wie gesund für Körper, Geist, Seele und Ehe (!) es ist, tatsächlich „gebraucht“ zu werden.
Frauen wussten das immer schon. Bei Männern könnte es zum Trend werden. Es waren Journalisten-Kollegen von der „Süddeutschen Zeitung“ und vom „Tagesspiegel“, die beobachteten: „Wie es scheint, entdecken Männer ihre religiöse Ader neu. Viele Frauen fürchten auf der Suche nach neuen Rollenmustern, dass Religion und Kirche sie unfrei machen und in alte Rollen zwängen. Männer dagegen finden in der Religion Rituale und eine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die ihnen Trost, Halt und einen Sinn im Leben gibt. Jesus Christus wird ihnen zum Vorbild.“
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