Auf den Kompass kommt es an
Interview
Bis 2018 leitete der promovierte Historiker Markus Spieker das ARD-Studio Südasien und legte uns jetzt mit seinem Buch „Übermorgenland“ eine Weltvorhersage in die Hand, aus der wir lernen könnten. Für die Zukunft. Basierend auf Einblicken aus der Vergangenheit und Gegenwart. Solide recherchiert, nachvollziehbar erzählt und geradlinig auf den Punkt gebracht. Im Gespräch mit Detlef Eigenbrodt benennt er Schwachstellen, zeigt Perspektiven und kommt zu einem ebenso schlichten wie wirkungsvollen Resultat.
Markus, Du sagst mit einem Blick nach hinten, dass wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind – was meinst du damit?
Es ist eine zutiefst menschliche Angewohnheit, die eigene Perspektive absolut zu setzen und sich selbst zum Maß aller Dinge zu machen. „Hochmut kommt vor dem Fall“, sagt deshalb die Bibel. Eine falsche Selbsteinschätzung führt automatisch zu einer fehlerhaften Wahrnehmung der Welt. Und dann passieren automatisch Fehler. Im Moment führen wir in Deutschland viele Debatten, die an sich durchaus wichtig sind: über rechtspopulistische Parteien, über Plastikmüll, über Diesel-Fahrzeuge und so weiter. Aber wir drücken uns um die Frage herum, wie unsere Probleme im Kontext der ganzen Welt aussehen. Welche Kompetenz wir überhaupt haben, daran etwas zu ändern. Welche Hausaufgaben wir erledigen müssen, bevor wir dem Rest der Welt sagen, wo‘s lang geht. Dann würde uns zum Beispiel auffallen, dass wir viel weniger wichtig sind, als wir glauben: wir stellen ja kaum mehr als ein Hundertstel der Weltbevölkerung dar, sind im internationalen Vergleich dramatisch überaltert, fallen zurück in der Zahl der Patentanmeldungen und bei der Messung der wirtschaftlichen Produktivität. Andererseits würde uns ein vorurteilsfreierer Blick auf die Welt zeigen, dass die Dinge längst nicht so schlimm sind, wie wir annehmen. Uns geht es ja auch deshalb schlechter, weil es uns eigentlich besser geht. Damit meine ich: die weltweite Bevölkerungszunahme, die uns vor große Herausforderungen stellt, resultiert daraus, dass die Menschen insgesamt gesünder sind und länger leben. Das ist eigentlich eine gute Nachricht, die viel zu wenig gewürdigt wird.
Und wir merken nicht, sagst du auch, dass Asien an uns vorbeizieht. Das hat sicher eine politische Dimension, aber hat es auch eine persönliche?
Gerade wir Deutschen haben noch nicht wirklich mitbekommen, dass wir nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sind. Im 19. Jahrhundert gab es ja halbwegs plausible Gründe dafür, dass wir uns an der Spitze des Fortschritts gewähnt haben. Die wichtigsten Philosophen und Erfinder waren Deutsche, und wir hatten auch irgendwann die größte Militärmacht. Das ist natürlich längst vorbei, aber irgendwie scheinen wir gefühlsmäßig immer noch davon auszugehen, dass der Rest der Welt von uns lernen muss – und nicht umgekehrt. Gerade den Asiaten attestieren wir schnell eine große Fähigkeit beim Imitieren, halten uns ihnen aber in punkto Originalität für überlegen. Und das stimmt so pauschal natürlich nicht. Ich bin großer Kinofan und deshalb fällt mir etwa auf, dass die innovativsten Filme inzwischen aus Korea oder Taiwan kommen, nicht aus Deutschland.
Du hast ja in Asien gelebt, was hat dir dort mächtig imponiert und was hat dich auf die Palme gebracht?
Imponiert hat mir erstens der dortige realistische Pragmatismus. Da wird über Probleme nicht lange theoretisch diskutiert, sondern nach Lösungen gesucht und diese werden umgesetzt. In Ländern wie Indien mit einer sehr starken und behäbigen Bürokratie scheitert das dann schon mal an der Verwaltung, aber in effizienter regierten Ländern wie Singapur geht es dann mit der Reformumsetzung sehr schnell. Bemerkenswert fand ich zweitens den Stellenwert, den Traditionen und Familienpflege in diesen Kulturen haben. Die Demut vor den Leistungen der Vorfahren ist viel ausgeprägter als bei uns und die Wertschätzung der älteren Mitbürger auch. Der Zusammenhalt von Familien wird hochgehalten, was man auch daran erkennt, dass selbst in armen Ländern wie Afghanistan durchschnittlich fast genauso viel für Hochzeiten ausgegeben wird wie bei uns. Beide Vorzüge haben natürlich auch ihre dramatischen Kehrseiten: der Pragmatismus hat eine stark fatalistische Komponente. Man nimmt die Dinge als schicksalshaft hin und überlegt nicht so sehr, wie es in Deutschland der Fall ist, wie man etwa soziale Missstände aus der Welt schaffen kann. Und die Gruppenorientierung führt natürlich zu einer Abwertung der individuellen Freiheit, zu arrangierten Ehen, zu Traditionsbeharrung. Vor allem aber hat mir in den nicht-christlichen Kulturen Asiens das gefehlt, was uns in Europa durch die Apostel und spätere Missionare geschenkt wurde: Jesus.
Was ist denn heute das dringlichste Problem unserer Gesellschaft, dem wir uns intensiv zuwenden sollten?
Bei aller berechtigten Sorge um die Klimaveränderungen gerät schnell aus dem Blick, was denn die Hauptursache ist: der rasante Bevölkerungszuwachs. Wenn wir bald zehn Milliarden Erdenbürger haben, ist klar, dass damit auch die Umweltbelastung zunimmt. Denn auch die Ärmsten wollen Strom und Anschluss an die Digitalisierung und brauchen dafür viel Energie. Was dieser Bevölkerungszuwachs für Konsequenzen hat, wird viel zu wenig diskutiert. Gleichzeitig haben wir in Deutschland mit einem Altersdurchschnitt von etwa 45 Jahren eine Gesellschaft, die gerade keine Lust auf Veränderungen hat und auch völlig überfordert damit ist, wenn sie zum Zielpunkt einer neuen Völkerwanderung wird. Da stehen uns noch dramatische Zeiten bevor.
Markus, du schreibst in deinem Buch, die Welt wird wütender. Wann und womit hat das angefangen und wohin führt das wohl?
Eigentlich ist es ja eine gute Nachricht, dass die Wut größtenteils verbalisiert wird und nicht zu neuen Kriegen führt. Insgesamt ist die Welt ja friedlicher als vor hundert Jahren, und die gewalttätigen Konflikte spielen sich vor allem innerhalb von Staaten ab, nicht zwischen ihnen. Für die Opfer ist das natürlich ein schwacher Trost, aber man darf nicht vergessen: das schlimmste Blutvergießen passiert, wenn ganze Völker sich an die Kehle gehen. Dass im Internet, aber auch bei Straßenschlachten, zunehmend die Sicherungen durchbrennen, ist unter anderem auf Angst zurückzuführen. Wer sich ohnmächtig und überfordert fühlt, der reagiert auch deshalb wütend, weil die Wut ein Ventil ist und man zumindest gefühlt aus der Rolle des passiven Opfers herauskommt. Für Deutschland stellt sich deshalb die Frage, ob unsere politische Kultur nicht offener werden muss, ob wir nicht diejenigen besser integrieren und ihnen eine Stimme geben müssen, die sich ausgegrenzt fühlen. Aber das Wut-Wachstum hat auch eine ganz andere schlichte Ursache. Durch die Globalisierung und das Bevölkerungswachstum kommen sich viele Menschen nahe, die wenige Gemeinsamkeiten haben. Wenn dann auch noch der Wettbewerb um Ressourcen losgeht, führt das zu mehr Aggression.
Was meinst du: wären viele negative Entwicklungen eigentlich abwendbar gewesen, wenn die Menschen aufgepasst hätten und ihrer Verantwortung nachgekommen wären? Oder ist das, was wir erleben, notwendiger Teil eines Prozesses, der nicht abzukürzen ist?
Der Mensch ist fehlbar. Punkt. Es wäre ja wirklich wünschenswert, wenn Adam und Eva besser nachgedacht hätten, bevor sie in den vermeintlichen Apfel bissen. Und wenn die Leute zu Noahs Zeiten nicht solche Ekelpakete gewesen wären. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ein Auf und ein Ab, allerdings nicht völlig ziellos. Seitdem Jesus in die Welt gekommen ist, hat sich ja vieles verbessert: die Sklaverei ist abgeschafft, Kriege werden zunehmend geächtet, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist zumindest in der westlichen Welt weitgehend realisiert. Was mich traurig macht, ist, dass wir uns diese Erfolge selbst auf die Fahnen schreiben und verkennen, dass Gott uns in Jesus Christus auf diesen guten Weg gebracht hat. Wir vergessen auch, dass es der deutsche Hochmut war, der konsequent zur Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 geführt hat. Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur war dann die Zerknirschung groß und die Kirchen waren voll. Aber jetzt reden wir uns schon wieder ein, wir könnten selbst das Paradies auf Erden schaffen. Das finde ich beängstigend.
Bei deinen Aufenthalten „hier und dort“ – welcher Mensch hat dich am tiefsten beeindruckt? Erzähl …
Ganz allgemein hat mich die Fröhlichkeit armer Menschen beeindruckt – und zwar längst nicht nur bei Christen, sondern auch bei Muslimen, Hindus, Buddhisten, Agnostikern. Es mag auch am Wetter liegen, aber in Indien – und überhaupt im Morgenland – wird mehr gelacht als bei uns. Ansonsten habe ich viele Leute getroffen, die ihren eigenen Komfort opfern, um sich für andere einzusetzen. Die christlichen Aktivisten von „International Justice Mission“, die sich um die Befreiung von modernen Sklaven kümmern. Meine persönliche Lichtgestalt war die deutsche Nonne und Ärztin Ruth Pfau, die von ihrer Jesus- und Menschenliebe nach Pakistan gebracht wurde und die dort die Lepra fast im Alleingang besiegt hat. Sie bekam nach ihrem Tod die höchste staatliche Ehre, ein Staatsbegräbnis. Sie war davon überzeugt, dass alle Menschen von Gott dazu erschaffen wurden, Glück zu erleben. Ihren Auftrag sah sie darin, alles dafür zu tun, damit die Allerunglücklichsten zum ersten Mal im Leben Glück erleben durften. Das hat mich sehr beeindruckt.
Wenn es stimmt, dass es immer mehr „Gottlose“ gibt und das Christentum die beste Religion aller Zeiten ist, was läuft dann falsch?
Gottlosigkeit gab es ja schon, bevor Jesus in die Welt kam. Der Grieche Epikur und der Römer Lukrez haben denselben Materialismus gepredigt, der heute sehr populär ist. Gottlosigkeit, also die radikale Selbstbezogenheit, ist Religion der Reichen und Stolzen. In den Slums findet man sie deshalb kaum, eher in den Designerlofts – auch in Asien. Deshalb finde ich angesichts des massenhaften Wohlstands in unserer Welt gar nicht überraschend, dass die Anzahl der Menschen wächst, denen Gott gleichgültig ist. Bezeichnend finde ich allerdings, dass sie sich trotzdem nicht schneller vermehren. Der Grund liegt darin, dass sie die wenigsten Kinder haben. Dazu passt, dass viele der atheistischen Vordenker totale Beziehungsversager waren, die ihre Geliebten und Kinder regelmäßig ins Unglück gebracht haben. Christen waren schon immer – und sind es heute wieder – eine kreative Minderheit. Wir sind eben das Salz der Erde, nicht das Fleisch.
Was meinst du: wo stehen wir in – sagen wir mal – 25 Jahren?
Dann stehen wir ungefähr in der Mitte des 21. Jahrhunderts – und ich habe keine Ahnung, ob es vorher eine Weltwirtschaftskrise oder einen Kollaps des Ökosystems gibt. Ich hoffe mal, weder – noch. Sicher ist, dass die Maschinen und Computer dann eine noch größere Rolle spielen als heute. Ich hoffe, dass die Prognosen von Futurologen, die eine Weltherrschaft der künstlichen Intelligenz prophezeien, nicht Wirklichkeit werden. Aber tatsächlich könnte es sein, dass sich durch die Technisierung eine völlig neue Art menschlichen Zusammenlebens entwickeln wird. Dann wird es darauf ankommen, dass der moralische Kompass immer noch intakt ist, das heißt: dass wir Gottes liebevolle Autorität anerkennen und uns treu und fürsorglich umeinander kümmern. Viel wird von der Generation abhängen, die jetzt um die 30 Jahre alt ist. Sie werden die wichtigen Debatten der nächsten Jahrzehnte führen – ich hoffe sehr: zum Guten.
Wie kommst du selbst eigentlich mit dem Ergebnis deiner „Gedanken zum Übermorgenland“ zurecht – hast du Angst vor der Zukunft?
Ich bin ein grundoptimistischer Mensch. Verzweiflung kenne ich gar nicht. Die Maxime „Alles wird gut“ hängt natürlich mit meiner persönlichen Erfahrung zusammen. Ich habe von Gott und den Menschen, die mir am nächsten standen, fast durchweg Gutes erfahren. Entsprechend gucke ich in die Zukunft. Und als Christ halte ich die Zukunftsvorhersagen von Jesus für sehr zuverlässig. In seinen Gleichnissen hat er das ewige Leben als eine Art nichtendende Hochzeitsfeier beschrieben. Meine eigene Hochzeit liegt erst ein paar Jahre zurück und in Asien habe ich absolut fantastische Hochzeiten erlebt. Wenn diese Erlebnisse nur ein Schimmer der Freude sind, die uns einmal erwartet, haben wir allen Grund, angstfrei in die Zukunft zu gehen.
Danke, Markus, für das Gespräch. Für dein persönliches und berufliches Sein und Schaffen wünsche ich dir Gottes Segen.
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