Wieso ausgerechnet ich?
Leitartikel
Wer sich mit der Frage nach Gerechtigkeit beschäftigt, kommt nicht daran vorbei, auch über Egoismus nachzudenken. Und auch nicht an der Frage, wer am Ende wirklich definieren kann und darf, was gerecht ist. Professor Ottfried Höffe meint, Gerechtigkeit sei das, was die Menschen einander schulden. Andere meinen, Gerechtigkeit definiere, was einem zusteht. Und schon haben wir ein Patt. Detlef Eigenbrodt fragt sich, wie das aufzulösen ist.
Es war ein schöner Samstagnachmittag, als ich mit Freunden zusammen vor dem Haus stand. Wir sprachen über Martina und wie es ihr gerade geht. Es ging ihr gar nicht gut. Vor rund drei Jahren war sie mit einer verheerenden Diagnose nach Deutschland gekommen. Für ihre Brustkrebstherapie hatte sie ihren Mann und die Kinder dort zurückgelassen, wo sie seit Jahrzehnten glücklich zuhause war, im Land ihres Herzens. In dem allerdings die Therapie gegen Krebs nicht gut entwickelt ist. Sechs lange Monate war Martina dann in Behandlung und konnte anschließend wieder heimreisen. Mit der Prognose, gesund zu sein. Doch schon bald kam sie zurück, so wie der Krebs zurückgekommen war.
Grausamer als zuvor. Gestreut, nicht operabel. Sie war dennoch gekommen, um zu tun, was zu tun war. Wenige Tage vor besagtem Samstag hatte ich Martina noch getroffen und mich verabschiedet. Mir war klar, dass ich sie vermutlich nie wiedersehen würde. Da standen wir nun, Arm in Arm, unter der strahlenden Sonne, vor dem Haus, am helllichten Nachmittag und beteten für sie. Und wir weinten. Am Sonntagmorgen kam die Nachricht, dass Martina gestorben war.
Mir geht es gut
Bei unserer letzten Begegnung hatte ich sie gefragt, wie es ihr gehe. Innerlich, in der Seele. Und sie sagte schlicht: „Ich habe Schmerzen und ich weiß nicht, was kommt. Aber ich weiß, dass Gott mit mir ist. Mir geht es gut.“ Ich habe ihr jedes Wort geglaubt, und irgendwie war es nicht mehr nötig, weiter über diese Frage zu reden. Ihr Vertrauen auf Gott machte sie wirklich ruhig. Sonderbar, meinen die, die dieses Vertrauen nicht haben. Aber Martinas Ruhe war echt, aufrichtig, überzeugend. Sie hat nie die Frage gestellt, warum nun ausgerechnet sie an Krebs erkranken musste. So, als wäre diese Frage nicht von Bedeutung. So, als wäre die Welt auch nicht besser oder gerechter, wenn die Nachbarin diese Krankheit hätte. Martina war eher eine von der Sorte Mensch, die sich fragen: „Wieso geht es eigentlich ausgerechnet mir so gut?“
Dieser gedankliche Ansatz ist mir sehr vertraut. Ich stehe immer wieder staunend da und höre, wie Menschen das Leben, oder wen auch immer, anklagen und über Zustände schimpfen. So, als hätten wir einen Anspruch darauf, dass es uns gut ginge. Als wäre jemand dafür zuständig und müsse sich darum kümmern, dass es uns an nichts fehlt. So, als wäre es in der Tat eine große Ungerechtigkeit, wenn wir leiden. Und der Nächste nicht. In diesem kleinen Zusatz liegt ein Teil des großen, ganzen und komplexen Problems. Dr. Steffen Schulte wird das ab Seite 44 noch intensiver ausführen, deshalb an dieser Stelle nur so viel: Wer sein Glück an dem der anderen misst, wer meint, er müsse genau so viel haben oder mehr, wer vergleicht und über dem Haben des Nächsten sein eigenes Soll definiert und dabei versucht, das in den Kategorien gerecht oder ungerecht zu denken, ist zum gedanklichen Scheitern verurteilt.
Wenn ich so recht darüber nachdenke – Sie erinnern sich sicher an diese eine, große Frage, die bei Krisen und Katastrophen immer wieder gestellt wird: Warum lässt Gott das zu? – dann meine ich wohl, dass diese Frage in den meisten, wenn nicht gar allen Fällen von Menschen gestellt wird, die diesem Gott, den sie da in die Verantwortung nehmen wollen, gar nicht nahestehen. Auch gar nicht nahestehen wollen. Ich habe in diesen Gesprächen oft den Eindruck, als gehe es eher darum, die eigene Verantwortung von sich zu schieben, als auf die eben gestellte Frage wirklich eine Antwort zu finden. Und die wäre ja tatsächlich zu finden, würde man sie ernsthaft und aufrecht suchen. Man müsste gar nicht so weit gehen.
„Wenn dann jemand einen Schnupfen bekommt und ausruft „Typisch! Ich muss mir das wieder einfangen! Warum ausgerechnet ich?“, dann stellen wir maximal rhetorische Fragen und bemitleiden uns selbst.“
Die große Willkür
Nun, halten wir soweit mal fest: Wirklich viele Menschen definieren Recht und Unrecht schlicht nach dem, was sie dafür halten. Die Mühe, eine solide Grundlage für die eigene Ansicht zu finden, machen sich die meisten nicht. Fast hätte ich geschrieben „heute nicht mehr“. Aber war das wirklich jemals anders? Vermutlich kaum. Wenn Recht und Unrecht jedoch kein tragfähiges Fundament haben, wenn die Forderung nach Erfüllung eigner Wünsche mit großer Willkür und tiefsitzendem Egoismus gestellt wird, wenn jeder meint, Ansprüche geltend machen zu dürfen, und wenn dann jemand einen Schnupfen bekommt und ausruft „Typisch! Ich muss mir das wieder einfangen! Warum ausgerechnet ich?“, dann stellen wir maximal rhetorische Fragen und bemitleiden uns selbst.
Ich habe eine Reihe von Bekannten und Freunden, die sehr ernsthaft erkrankt sind, nicht wenige davon wie Martina an Krebs, eine von ihnen schon mit 18 Jahren. Sie ging durch tiefe Täler, und oft war ihr die Angst anzusehen, diese Zeit nicht zu überleben. Aber einen Vorwurf habe ich aus ihrem Mund nie gehört. Noch eine von denen, die sich still von Gott an die Hand nehmen und führen lassen. Voller Vertrauen. Heute, viele Jahre später, lebt sie immer noch. Geheilt. Warum Gott nun sie geheilt hat und Martina nicht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was Gott plant und ausführt, ich weiß nicht, was seine Beweggründe im einzelnen Handeln sind. Aber ich weiß, dass er es richtigmacht. Corrie ten Boom, die alte Dame aus den Niederlanden, die im zweiten Weltkrieg Juden vor den Nazis versteckte und dafür ins Konzentrationslager kam, sprach nach dem Krieg auf vielen Veranstaltungen. Oft hatte sie einen geknüpften Wandteppich dabei, den sie den Zuhörern zunächst von der Rückseite zeigte. Von der Seite, auf der alle Fäden wild durcheinanderlaufen und verknotet sind und alles nur nach einem großen
Durcheinander aussieht. Als sie dann die Vorderseite zeigte, erschloss sich jedem sofort das Kunstwerk. Das Bild war deutlich und schön zu erkennen, niemand dachte mehr an die Unordnung auf der Rückseite. Aber jeder wusste, dass es das eine ohne das andere nicht gab. Und dass es manchmal Dinge gibt, die dem menschlichen Auge verborgen oder verstellt sind.
Was macht Gott da?
Gott ist doch irgendwie unberechenbar. Immer wieder denke ich, dass wir nicht voraussehen können, was er tut. Zwei Frauen, beide krank, beide als überzeugte Nachfolgerinnen für ihn im Dienst, beide vertrauen und beten, – eine lebt, eine stirbt. Ist das Gerecht? Ich denke an einen Bekannten, der alkoholabhängig ist und Gott inständig gebeten hat, ihn aus der Sucht zu befreien. Dann sehe ich eine christliche Talkshow in der jemand erzählt, wie er im Gefängnis auf dem Hof durch eine Gottesbegegnung seine Drogensucht überwunden hat. Nur hatte der gar nicht danach gefragt. Er hatte gar nicht gesucht. Da war Gott einfach so in sein Leben getreten und hatte ihn freigemacht. Ich raufe mir die wenigen Haare, die ich noch habe, und denke: wieso kommt der, der sich an Gott wendet und auf dessen Hilfe baut schlechter weg als der, der nicht nach Gott fragt? Ist darin irgendeine Gerechtigkeit zu finden? Und ich seh' sie nur nicht? Ähnlich wie bei dem Wandbehang von Corrie ten Boom? Oder hier: Vor einiger Zeit führte ich ein sehr intensives Interview mit einem jungen Mann, der sich nicht nur zu Jesus bekennt, sondern auch zu seiner Homosexualität. Über zehn Jahre hatte er mit sich selbst und seinen Gefühlen gerungen, bevor er akzeptierte, dass er Frauen nicht attraktiv findet. Er hatte Gott auf Knien angefleht und gebettelt, ihn anzurühren ihn zu verändern. Er wollte so nicht sein. Er war in Gesprächen und hatte getan, was er tun konnte. Aber die Empfindungen für Männer ließen sich nicht umkehren. Er war schwul und wird es wohl auch bleiben. Warum hatte Gotte ihm nicht geholfen, warum ihn nicht erlöst? Warum ihn nicht befreit von seinen Gefühlen? Der Bursche war am Boden zerstört. Und das war nur der Anfang einer sehr langen traurigen Geschichte, in der wir lange danach fragen und suchen, ob es gerecht zugeht. Nach seinem Coming Out gingen dann die Kommentare und Reaktionen los. Viele davon reichlich herzlos, manche sogar hirnlos. So fand dieser junge Mann zu einer Position, auch einer theologischen Position, die ihn Frieden finden ließ mit sich selbst. Sie muss nicht richtig sein, nur weil er sich damit wohlfühlt, aber sie macht etwas anderes deutlich. Ich meine, er suchte sich eine Position des Friedens, weil ihm in Kirche und Gemeinde nur friedlos begegnet wurde. Da war kaum jemand bis niemand, der ihm die Hand bot, der mit ihm reden wollte, der ihm zuhören wollte. Er war ein Outcast, ein Ausgestoßener. Wie Gerecht ist das? In Kürze wird ein Buch erscheinen, in dem eine ganze Reihe Frauen und Männer über ihre Homosexualität und ihre persönlichen Erfahrungen mit ihren Gemeinden schreiben werden. Ich ahne schon heute, zu welch kontroversen Diskussionen das führen wird. Die einen werden sagen, dass praktizierte Homosexualität mit der Bibel nicht zu vereinbaren ist, und stützen sich dabei auf ausgewählte Passagen des Alten und Neuen Testaments. Die anderen werden argumentieren, sie sei eine Schöpfungsvariante Gottes und argumentieren nach historisch kritischen und kontextualisierten Ansätzen. Jeder wird dabei vermutlich auf seiner Überzeugung beharren, jeder wird seine Erkenntnisse vorbringen, jeder wird sich wundern, wie wenig einsichtig der andere ist. Nur wird vermutlich leider kaum einer aus dieser Auseinandersetzung etwas lernen. Weil jeder meint, seine Position und Erkenntnis sei richtig. Jeder will und wird am Ende Recht behalten, wird meinen, von anderen ungerecht behandelt und willentlich nicht verstanden zu werden. Für mich ist das keine Frage der Moderne oder des Niedergangs des christlichen Glaubens. Für mich ist das Ausdruck der Unfähigkeit, still zu halten und hinzuhören, Ausdruck einer fehlenden Gesprächsfähigkeit und einer mangelnden Bereitschaft einzugestehen, dass wir nicht immer Recht haben.
Biblisch gut begründet
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es richtig und notwendig ist, unsere Position anhand der Bibel zu schärfen und diese zu vertreten. Gott ist und bleibt der wesentliche Faktor. Auch wenn Faix und Künkler in ihrer sehr interessanten Studie herausgefunden haben, dass junge Menschen heute mehr von Lobpreisleitern und deren Liedern geprägt und beeinflusst werden als von der Bibel, dem Wort Gottes. Diese Studie stellen wir Ihnen auf Seite 23 vor. Also ja, bitte: unbedingt hinstehen und biblisch gut begründet die eigene Überzeugung vertreten. Solch eine Überzeugung entwickelt sich nur profund durch den Einsatz von Thesen und Antithesen. Wie aber kann es sein, dass wir mit unserer Meinung dann oft als so gnadenlos christlich wahrgenommen werden? Unter Umständen deshalb, weil wir Recht und Gerechtigkeit als nur uns gegeben betrachten und dabei die Liebe, Barmherzigkeit und Gnade unseres Gottes vermissen lassen.
Würden wir anfangen, die Fragen unseres Lebens umzuformulieren, dann würde ein interessanter Prozess in Gang gesetzt: Gott, warum bin ausgerechnet ich gesund? Warum hast du so etwas Grausames wie Krebs nicht in mein Leben eingeordnet? Warum lebe ich, während andere sterben? Und Gott, warum bin ausgerechnet ich nicht abhängig von Alkohol, Drogen, Zigaretten, Arbeit, Tratsch? Warum hast du nur zugelassen, dass solch ein Übel an mir vorbeigeht? Warum empfinde ich nicht homosexuell, sondern „normal“? Warum habe ich zu essen, ein Dach über dem Kopf, Freunde? Das ist doch nicht gerecht. Warum ausgerechnet ich?
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