Die Ungerechtigkeit der Demokratie

Standpunkt

Meistens hochgeschätzt, weil jeder darin vorkommt, manchmal kritisiert, weil sie nicht bringt, was Einzelne wollen. Als Regierungsform garantiert die Demokratie viel. Aber kann sie auch Gerechtigkeit? Über die Chancen und Grenzen des staatlichen Handelns schreibt Uwe Heimowski.

Es gibt da diese wunderbare Karikatur von Werner „Tiki“ Küstenmacher: Ein Elefant, ein Vogel, ein Schimpanse, ein Goldfisch im Glas, eine Schnecke und ein Seehund stehen neben einem Mann an einem Lehrerpult. Der Mann zeigt mit der Hand auf einen Baum und sagt: „Damit es gerecht zugeht, erhalten Sie alle die gleiche Prüfungsaufgabe: Klettern Sie auf diesen Baum!“ Das erklärt sich selbst. Sofort leuchtet uns der Widersinn dieser Aufgabe ein. Was, bitte schön, soll daran gerecht sein, die gleiche Aufgabe zu bekommen, wenn doch alle Prüflinge ganz andere Voraussetzungen und Fähigkeiten mitbringen? Küstenmacher führt uns sehr eindrücklich vor Augen, dass das Prinzip „jedem das Gleiche“ mitunter sehr ungerecht sein kann. 

Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich

Und doch: Im „gefühlten“ Alltag verwechseln wir Gleichheit und Gerechtigkeit oft miteinander. Das fängt schon am Küchentisch an. Wer kennt sie nicht, die Klage: „Papa, das ist aber ungerecht“, wenn ein Vater seine Kinder so behandelt, wie es ihrem jeweiligen Alter entspricht – und damit unterschiedlich. Unsere Wahrnehmung von Politik ist nicht viel anders. Beispiel gefällig? Die Rente. Regelmäßig wird die Ungleichheit zwischen Ost und West beklagt (übrigens aus Ostperspektive die niedrigere Bewertung der Rentenpunkte; mit dem Westblick die hohe Gesamtrente für Ehepaare, die beide einer Erwerbsarbeit nachgegangen sind). Wie kann das gerecht sein? Objektiv muss man sagen, dass die Mammutaufgabe, zwei völlig unterschiedliche Rentensysteme zusammenzuführen, in weiten Teilen erstaunlich gut gelungen ist. Aber eben: Ungleichheit fühlt sich an wie Ungerechtigkeit. Das ist eine Spannung, die die Politik nur ansatzweise auflösen kann. Schon Aristoteles hat das erkannt. In seiner Ethik hat er eine Unterscheidung eingeführt. Er spricht von „austeilender“ und „zuteilender“ Gerechtigkeit. Die austeilende Gerechtigkeit gibt jedem das Gleiche, die zuteilende Gerechtigkeit jedem das Angemessene. Beide Formen der Gerechtigkeit haben in bestimmten Kontexten ihre Berechtigung. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das leuchtet ein. Gleicher Lohn für kürzere Arbeitszeit oder weniger Leistung? Das löste schon bei den Arbeitern im Weinberg, die Jesus in einem Gleichnis erwähnt, erhebliches Murren aus.

Für den Staat entsteht dadurch ein Dilemma. Es gibt gesellschaftliche Bereiche, in denen alle Menschen gleich behandelt werden müssen. Etwa, indem der Sozialstaat das Existenzminimum oder eine medizinische Grundversorgung garantiert. In anderen Bereichen dagegen führt Gleichheit zu Ungerechtigkeit. Regelmäßig muss der Staat ein bestimmtes Problem einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten Situation lösen, und da kommt er mit der Gießkanne nicht weiter – wohl wissend, dass in der Folge neue (gefühlte) Ungerechtigkeiten entstehen können. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Das ist das leitende Prinzip in einem Rechtsstaat. Jeder Mensch besitzt die gleiche ihm angeborene Würde. Der Staat hat diese unterschiedslos zu schützen, ohne dabei auf Geschlecht, ethnische Herkunft, politische Gesinnung, sexuelle Orientierung oder Religion zu achten. So sagt es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und so steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Diese Gleichheit entspricht zutiefst dem Wesen einer Demokratie. Doch auch vor dem Gesetz bleibt das Dilemma bestehen: nicht jede Gleichbehandlung führt zu Gerechtigkeit. Die Rechtsprechung hat vielmehr dem Grundsatz zu folgen, dass „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln“ ist. So kann ein Tötungsdelikt einmal eine Fahrlässigkeit, einmal ein Totschlag, ein anderes Mal ein Mord sein. Wer ein gerechtes Urteil sprechen will, muss die Motive und die Umstände klären.

Gerechtigkeit und Gleichheit sind nicht dasselbe

Manches mag also gleich erscheinen und kann doch, seinem Wesen nach, ungleich sein. Nehmen wir ein aktuelles, hochsensibles und emotionales Thema. Ist eine Ehe zwischen Mann und Frau das Gleiche wie eine Ehe zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern? Ich denke nicht. Warum? In beiden Konstellationen übernehmen Menschen füreinander Verantwortung.

„Gerechtigkeit und Gleichheit sind nicht dasselbe. Gerade um gerecht zu handeln, kann und muss ein Staat Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln.“

Das ist aus staatlicher Sicht schützenswert. Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Nur aus einer Verbindung von einem Mann und einer Frau kann auf natürlichem Wege ein Kind entstehen. „Ehe und Familie“ stehen daher nach dem Grundgesetz unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. 

Dass es heute vielfältige Familienkonstellationen gibt, setzt diese „Keimzelle“ der Gesellschaft keineswegs außer Kraft. In mehreren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht daher die Ehe zwischen Mann und Frau von der Lebenspartnerschaft zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren unterschieden. Dabei ging es nicht um Diskriminierung, wie immer wieder behauptet wird, sondern um Differenzierung – eben nach dem erwähnten Grundsatz, dass Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Um es noch ein bisschen komplizierter zu machen: Manchmal kann eine vorübergehende Ungleichbehandlung nötig sein,

in welcher die Politik eine Gruppe privilegiert, um langfristig Gleichheit herzustellen. Auch hierzu ein Beispiel: Weil Frauen in vielen Ämtern und Berufen unterrepräsentiert sind, wurden Frauenquoten eingeführt. Entsprechend werden bis zum Erreichen dieser Quoten Frauen bevorzugt eingestellt, und das ist eine tatsächliche und offensichtliche Ungleichbehandlung der Männer. Allerdings dient sie dem größeren Ziel, die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen herzustellen.

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Ziehen wir ein erstes Zwischenfazit: Gerechtigkeit und Gleichheit sind nicht dasselbe. Gerade um gerecht zu handeln, kann und muss ein 
Staat Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln. Trotzdem kann sich auch eine angemessene Ungleichbehandlung subjektiv sehr ungerecht anfühlen. Das werden die Frau, die nicht angenommen wurde, weil sie eine Frau ist, und der Mann, der wegen der Quote keine Chance hatte, bestätigen. Das aristotelische Modell reicht nicht aus um dieses Dilemma aufzulösen. Andere Philosophen und Staatstheoretiker haben sich deshalb darangemacht, Gerechtigkeit anders zu denken. Einen wichtigen Ansatz liefert John Rawls in seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“. Rawls beschreibt Gerechtigkeit als „Fairness“. Am besten wohl mit „Chancengleichheit“ zu übersetzen. Heute ist das längst ein leitendes Motiv in der Politik. Allerdings sehen wir auch bei diesem Thema, dass der Staat an seine Grenzen kommt. Wie stellt man Chancengleichheit her? Indem jeder Schüler die gleiche Schulart besucht? Doch wird das den Begabungen und Schwächen der Schüler gerecht? Unser sehr ausdifferenziertes Bildungssystem versucht, Menschen individuell zu fördern. Das ist angemessen, verursacht aber auch neue Ungleichheiten: zwischen Hauptschülern und Abiturienten, Arbeitern und Akademikern.  Dabei sind weitere Faktoren noch gar nicht berücksichtigt: Migrationshintergrund oder familiärer Bildungsstand. Politik muss die Probleme und Ungerechtigkeiten identifizieren und Lösungsvorschläge vorlegen. Aber Gerechtigkeit kann sie immer nur annähernd erreichen. Auch dazu ein Beispiel: Wenn die Politik eine Kindergarten- oder Vorschulpflicht einführt, erhöht das die Chancen von Kindern aus bildungsfernen Familien oder von Migranten. Für andere Familien dagegen ist das eine Einschränkung ihrer Freiheit, für die auch im Interesse der Kinder keine Notwendigkeit besteht.

Für alle das Gleiche ist nicht für jeden dasselbe

Diese Beispiele zeigen: Da Politik für alle gemacht werden muss, ist es schwer, punktgenaue Angebote zu entwickeln. Für die Bürger ist das in unserem Land eine große Chance. In Deutschland besteht das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Danach muss der Staat freie Träger fördern. Es besteht also die Möglichkeit, Kindergärten und Schulen in freier Trägerschaft zu gründen. Das führt zu einer großen Vielfalt in der Bildungslandschaft und erhöht dadurch die Chancengleichheit deutlich. Für Christen, als Bürger in dieser Demokratie, sind das großartige Möglichkeiten, die auch vielerorts genutzt werden. Christliche Kindergärten entstehen, Bekenntnisschulen werden gegründet. Gerechtigkeit heißt in diesem Fall, dass der Staat Raum anbietet, den die Zivilgesellschaft füllen kann – den sie aber auch füllen muss. Ein Schlussgedanke. Vor vielen Jahren habe ich meinen Zivildienst absolviert. Zu Beginn besuchten wir ein Einführungsseminar. Zwischendrin war Zeit für Fragen. Ein junger Mann hob den Finger: „Warum müssen wir eigentlich 20 Monate Dienst leisten? Die Jungs bei der Bundeswehr kommen deutlich kürzer davon. Das ist doch ungerecht.“ Der Dozent verzog den Mund zu einem süffisanten Lächeln. „Danke für Ihre Frage“, antwortete er, „das gibt mir die Gelegenheit, Ihnen eine Weisheit mitzugeben, von der Sie ihr ganzes Leben lang profitieren werden.“ Er legte eine Kunstpause ein, und sagte dann: „Trennen Sie sich bitte von der Vorstellung, dass das Leben gerecht sei.“ Damals hielt ich das für ziemlich resignativ. Heute, dreißig Jahre später, habe ich einiges über Gerechtigkeit gelernt. Nein, das Leben ist nicht gerecht, wenn es verlangt, dass ein Elefant, ein Vogel, ein Schimpanse, ein Goldfisch, eine Schnecke und ein Seehund auf einen Baum klettern sollen. Für alle das Gleiche ist nicht für jeden dasselbe. Politische Gleichmacherei führt eher zu neuen Ungerechtigkeiten. Aber eine Gerechtigkeit, die Menschen gleichwertig behandelt und ihnen individuelle Chancen ermöglicht, so eine Gerechtigkeit ist ein lohnendes Ziel. Machen wir uns auf den Weg, viele Türen sind offen. Politisch und persönlich.

Magazin Winter 2018