Wenn´s eng wird, hau ich ab
Standpunkt
Matthias Hipler kennt Menschen, die das tun würden. Abhauen, wenn’s eng wird. Und er hilft uns zu verstehen, was dahintersteckt. Dabei kommt dem „Verstehen“ die Hauptbedeutung zu. In alle möglichen Richtungen. Die nämlich, die alleingelassen werden, müssen begreifen, warum. Und die, die weglaufen, auch. Ein Appell für echte Auseinandersetzung, die tatsächlich Perspektiven schafft.
„Ich glaube, ich bin noch nicht bereit für eine feste Beziehung. Ich brauche meinen Freiraum!“ Wenn Sie diesen Satz schon einmal gehört oder selbst ausgesprochen haben, dann steckte mit großer Wahrscheinlichkeit Beziehungsangst dahinter.
Wir sehnen uns nach tiefen, liebevollen Beziehungen und wollen uns bei einem anderen Menschen wirklich zu Hause und rundum akzeptiert fühlen. Wir ersehnen eine Partnerschaft, fürchten uns aber zugleich davor. Der Gedanke, alleine bleiben zu müssen, macht uns einerseits Angst. Andererseits hindert uns aber die Furcht vor echter Nähe und tiefer Bindung daran, uns dauerhaft auf eine Partnerschaft einzulassen. Wenn uns diese Beziehungsambivalenz vertraut ist, gehören wir zur Gruppe der beziehungsängstlichen Menschen. Natürlich empfinden alle Menschen zeitweise spezifische Ängste im Blick auf das Gelingen einer Beziehung. Davon ist niemand frei. Wenn unsere Befürchtungen allerdings zu massiven Hindernissen auf dem Weg zu einer glücklichen Partnerschaft heranwachsen, müssen wir uns ihnen stellen und versuchen, sie mutig und geduldig zu überwinden.
Beziehungsangst tritt offen zutage, wenn Betroffene sich schüchtern, gehemmt und abweisend verhalten und sich auf keine Liebesbeziehung einlassen.
Ich brauche niemanden
Häufig verbergen sich hinter Beziehungsdefiziten typische Schutzbehauptungen, wie beispielsweise „Ich brauche niemanden!“, „Der Richtige ist mir nie begegnet!“, „Heute hält doch sowieso keine Liebe dauerhaft!“. Bewusst oder unbewusst verbindet der Beziehungsvermeidende vielfältige Gefahren mit Nähe und Bindung: übergroße Verantwortung, Verlust von Selbstbestimmung und Freiheit, die Sorge, verlassen oder verletzt zu werden, die Furcht, nicht zu genügen. Beziehungsblockaden werden häufig offenbar, wenn eine Entscheidung zu mehr Verbindlichkeit ansteht. „Will ich mich zum anderen öffentlich bekennen? Bin ich bereit, mit ihm zusammenzuziehen oder „Ja“ vorm Traualtar zu sagen?“ Zieht sich ein Partner zurück, steckt möglicherweise die Angst dahinter, es könne noch einen besseren Partner geben. Denn wer sich für einen Menschen entscheidet, trifft zugleich die Entscheidung gegen alle anderen potenziellen Partner.
Beziehungsängste wurzeln häufig in zurückliegenden negativen Liebeserfahrungen. Die früher erlittenen Verletzungen sollen sich auf keinen Fall wiederholen. Deshalb bleiben viele lieber auf Abstand, als neuen Schmerz zu riskieren. Beziehungserfahrungen im Elternhaus, wie Trennungen und Verluste, Gefühle von Misstrauen und Unsicherheit, rufen in der Gegenwart Unwohlsein, Ängstlichkeit und bedrückende Enge hervor. Je mehr Nähe erlebt wird, desto stärker treten Fluchtimpulse auf. Dabei fokussieren sich Beziehungsängstliche häufig auf die Fehler des Partners und die Defizite in der Zweierbeziehung, um sich schließlich aus der empfundenen Umklammerung lösen zu können. Überbehütende und -beschützende Eltern, die ihr Kind mit ihrer Liebe erdrücken, vermitteln ihm die tragische Schlussfolgerung, dass Liebe gleichzusetzen ist mit Vereinnahmung und dem Verlust der Selbstbestimmung. Als Erwachsener beschleicht Betroffene dann das Gefühl, von der Liebe des anderen geradezu überflutet und erdrückt zu werden. Liebe und Nähe scheinen Freiheit und Eigenständigkeit auszuschließen.
Wovor genau habe ich eigentlich Angst?
Der Leidensdruck für Frauen und Männer, die unter Beziehungsängsten leiden, ist hoch. Sie erleben, dass trotz aller guten Vorsätze ihre Liebesbemühungen immer wieder von neuem scheitern, wie das Beispiel von Melanie, 42 Jahre, zeigt: „Eigentlich verliebe ich mich immer wieder sehr schnell. Das ist mir schon oft passiert. Ich lasse mich auf die Beziehung zu einem Mann ein und dann denke ich: Der ist jetzt mein Mister Right. Im Grunde läuft dann immer wieder das gleiche Muster ab. Erstmal ist alles toll. Aber nach ein, zwei oder spätestens drei Jahren ziehe ich die Notbremse. Ich fühle mich dann irgendwie erdrückt. Die verliebten Schmetterlingsgefühle vom Anfang sind verflogen. Dann kommt die Angst hoch. Ich muss hier raus. Ich fühle mich enttäuscht. Ich ziehe mich zurück. Dann mache ich Schluss. So ist das jetzt schon fünfmal gelaufen. Immer die gleiche Schleife. Frust pur. Erst in einer Therapie habe ich verstanden, dass ich ein echtes Problem mit Nähe und Distanz in einer Beziehung habe. Inzwischen lerne ich sehr viel über mich, durchschaue meine Denk- und Gefühlsmuster. Die Beziehung zu mir selbst, meinen Bedürfnissen und Ängsten hat sich positiv verändert. Ich bin wieder offen für eine Beziehung. Weil ich heute mehr Verantwortung für mich selbst übernehme, fühle ich mich deutlich beziehungsfähiger.“
Der erste wichtige Schritt zur Überwindung von Beziehungsblockaden besteht darin, die eigenen inneren Überzeugungen und Muster zu reflektieren. Wovor genau habe ich Angst? Was fürchte ich, aufgeben oder verlieren zu müssen, wenn ich mich binde? Welche bindungsvermeidenden Reaktionen aus der Vergangenheit kann ich mir bewusstmachen? Woher rühren die Ängste, verletzt oder verlassen zu werden?
Ich lerne, für mich selbst zu sorgen
Erst die mutige Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit eröffnet neue Perspektiven für die Zukunft. Wer sich seinen Ängsten stellt, kann sie dauerhaft überwinden.
Weil der Bindungsangst häufig Selbstwertprobleme zugrunde liegen, geht es um einen liebevollen und wertschätzenden Umgang mit der eigenen Person. Wer sein Leben und sich selbst genießt, schafft die Voraussetzung für eine partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe.
Kein anderer Mensch kann mir letztlich das geben, was mich glücklich macht. Jeder Partner ist mit der Aufgabe des „Glückbringers“ überfordert. Ich muss mich von Idealvorstellungen und überzogenen Erwartungen an eine Liebesbeziehung verabschieden.
Was sind meine grundlegenden Bedürfnisse in einer Beziehung? Wenn ich weiß, was ich brauche und was nicht, muss ich mich nicht länger für die Liebe des Partners verbiegen. Ich lerne, gut für mich selbst zu sorgen und mich auf gesunde Weise gegenüber den Bedürfnissen des Partners abzugrenzen. Ich lerne, zu meinen Wünschen zu stehen, meine Stärken und Schwächen zu akzeptieren, und stärke meine Konfliktfähigkeit. Weil ich es wert bin, mich selbst zu lieben, kann ich lernen, mich auch in einer Liebesbeziehung frei und authentisch zu fühlen.
Ich stärke meine innere und äußere Attraktivität, indem ich in meinem Leben die Eigenschaften entwickle, die ich mir von einem Partner wünsche.
Ich baue meine Liebeskompetenzen aus, indem ich in Freundschaften investiere und sie als Übungsfeld für meinen Umgang mit Nähe und Distanz, Bedürfnissen und Abgrenzungen, Eigenständigkeit und Verbundenheit nutze. In freundschaftlichen Beziehungen kann ich lernen, mich zu öffnen, mich vertraut und sicher fühlen, ankommen, ohne dabei das Gefühl zu haben, mich zu verlieren. Ich bleibe ein eigenständiger Mensch und bin zugleich emotional mit ihnen tief verbunden. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen fordern mich dazu heraus, mich nicht nur um mich selbst zu sorgen, sondern Liebe zu geben und dankbar zu empfangen.
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