Die Angst ist eine Freundin, die uns schützt
Leitartikel
Dass Sie keine Angst haben müssen, haben Sie sicher hier und da schon gehört. Dass Angst allerdings nicht nur schlecht, sondern manchmal auch lebensnotwendig ist, hört man nicht so häufig. Florian Mehring wagt für uns die psychologische Einordnung und die Antwort auf die Frage, wie wir mit unserer Angst umgehen können.
Die ganze Welt spricht von ihr. Hinter vorgehaltener Hand oder direkt. Sie ist immer gegenwärtig. Die Angst. Sie macht Angst – die Angst. Die Welt ist voller Angstmacher, das ist nicht übertrieben. Ein Blick in die Tageszeitung oder die Nachrichtensendungen genügt um zu wissen, dass das stimmt. Weltweit tun sich Abgründe der Angst auf. Bezogen auf die Gegenwart, bezogen auf die Zukunftserwartungen und ebenso in der Reflexion der Vergangenheit. German Angst. Psychische Störungen finden wahrscheinlich in hohem Maße vor dem Hintergrund der Angst ihren Nährboden. Angst betrifft uns und macht uns betroffen. Sie geht uns an. Was aber ist Angst eigentlich? Ein missliebiger Aggregatzustand des Lebens, den wir irgendwie ertragen müssen und „wie Knete unter der Schuhsohle“ nicht loswerden können? Eine hilfreiche Navigationsunterstützung für unser Leben? Ein Teil der Normalität, mit leider häufig anormaler Ausprägung? Wahrscheinlich von allem etwas.
Die emotionale Grundausstattung
Ein Leben ohne Angst ist nicht möglich. Dem Menschen sind folgende biologische Grundgefühle eingestiftet: Ekel, Trauer, Wut, Freude, Überraschung, Angst. Diese Grundgefühle können noch vielfältig variiert werden und bilden zunächst einmal die emotionale Grundausstattung des Menschen ab. Das heißt, die Fähigkeit, Angst zu entwickeln, gehört zu unserer schöpfungsbedingten Ausstattung als Frauen und als Männer. So werden wir „ab Werk“ ausgeliefert. Um den Bogen etwas weiter zu spannen. Allenthalben ist von der Ganzheitlichkeit des Menschen die Rede. Nach biblischem Verständnis drückt sich diese Ganzheitlichkeit in dem anthropologischen „nefesh“, eine lebendige Seele, aus. Die Bibel kennt verschiedene anthropologische Grundbegriffe. „Nefesh“ kommt am häufigsten vor und beschreibt den Menschen am umfänglichsten. Zum Beispiel in 1. Mose 2,7 „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ „Nefesh“ – ein lebendiges Wesen. Wenn man „nefesh“ in seiner hochspannenden Bedeutungsvielfalt auf unsere heutige Sprachregelung übersetzt, lässt sich zusammenfassend sagen, der Mensch ist nach biblischer Sichtweise eine lebendige Seele, eine „nefesh“. Nicht er hat eine Seele. Das bedeutet eine nie trennbare Einheit aus psychischen, somatischen und geistlichen Aspekten.
Psyche steht als Oberbegriff für die Emotionen, die kognitiven Fähigkeiten wie u. a. Denken, Intelligenz, Gedächtnis und Lernfähigkeit, und die Motivation wie Antrieb, Ehrgeiz, Wille. Soma steht als Oberbegriff für alle körperlich-leiblichen Zusammenhänge und Abläufe. Knochenbau, Hormone, Nervenbahnen, neurobiologische Aspekte, Herz-Kreislaufsystem. Die geistlichen oder auch pneumatischen Aspekte beschreiben alle Bereiche des Glaubensverhältnisses Gott-Mensch / Mensch-Gott. Erlösung, Erlösungsbedürftigkeit, Gemeinschaft mit Gott und Menschen, Stille, Anbetung, Bibellese und Gebet. Auch die grundsätzliche und prinzipielle Sehnsucht des Menschen nach Gott. All diese Aspekte des Menschseins wirken immer miteinander und sind stets aufeinander bezogen. Das bedeutet Ganzheitlichkeit. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgende Definition von Angst recht gut einordnen. „Angst ist ein affektiver (die Gefühle betreffender) Zustand des Organismus, der durch erhöhte Aktivität des autonomen Nervensystems sowie durch die Selbstwahrnehmung von Erregung, das Gefühl des Angespanntseins, ein Erlebnis des Bedrohtwerdens und verstärkte Besorgnis gekennzeichnet ist (Krohne 1996).“
Symptome der Angst
Angst differenziert sich in unterschiedliche Begriffe, was das Phänomen an sich nicht gerade verständlicher macht. Wir kennen Furcht, Panik, Aufgeregtheit, Besorgnis. In der Praxis des Lebensalltags hat es sich bewährt, der eher diffusen und symptomorientierten Angst die konkretere „Furcht vor“ entgegenzusetzen. Wenn wir der Angst einen Namen geben können (Furcht vor …), fällt uns der angemessenere Umgang damit leichter. Angst kann real ausgelöst werden durch Notsituationen, eine zu erwartende Notsituation, Angst vor Krankheit, Hunger, Verletzung, kriegerischen Handlungen, Scheitern, Vereinsamung, Trennung, Existenzangst, den künftigen Lebensweg betreffend, den Lebensweg eines anderen Menschen betreffend, Höhe, Tiefe, Enge, Kälte, Wärme, sonstige Umweltreize, Neuheit, soziale Situationen und Erwartungen. Diese Liste kann individuell endlos fortgesetzt werden. Auf der körperlichen Ebene erzeugt die Angst unter anderem folgende Symptome: Anstieg des Blutdrucks und der Herzfrequenz, Angstschweiß tritt aus, vermehrte Atmung, Pupillen weiten sich, Gänsehaut, ggf. Entleerung von Blase und Darm, insgesamt ein Erregungszustand, Druck und Engegefühl in der Brust, ein subjektives Gefühl von Atemnot, Schwindel, „wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen würde“, die Welt wird anders wahrgenommen, verengt, „Scheuklappeneffekt“, Lösungen werden nicht mehr gesehen. Im Zuge dessen kann es zu paradoxen Reaktionen infolge von Angst kommen, die einander behindern. Einerseits werden aktivierende, andererseits lähmende Kräfte freigesetzt. Fluchttendenz versus Verharren in der Angst, was zu Erschöpfung und/oder Entmutigung führen kann. Summa summarum gehört die Angst mittels der benannten Palette von unschönen Symptomen sicherlich zu den Gefühlen, auf die wir intuitiv lieber verzichten würden.
„Problematisch wird es, wenn Angst uferlos wird und damit von der unterstützenden zur quälenden Angst mutiert.“
Aus der Aufzählung der mit Angst einhergehenden Symptome wird jedoch schnell deutlich, dass Angst eine schützende und vor Unheil warnende Funktion hat. Sie macht uns aufmerksam auf entsprechende Mangellagen und reale oder bevorstehende Gefahren und hilft uns damit, Situationen realer einschätzen zu können. Die Angst ist eine Freundin, die uns schützt. Wie alle anderen Gefühle, hilft uns auch die Angst, uns in der Welt zurechtzufinden. Wenn man so will als Navigationshilfe. Vor allem dann, wenn es uns gelingt, in guter Art und Weise mit der Angst oder den anderen Gefühlen zu korrespondieren. Was heißt das? Ein Gefühl für das Gefühl zu entwickeln. Viele haben Mühe mit den Gefühlen, erst recht mit der Angst. Gefühle sind schlecht – so die vorherrschende Meinung. Korrespondieren bedeutet „so zu tun, als würde das Gefühl sprechen“. Was sagt mir die Angst? Dann kann ich darauf reagieren. Bestätigend, beschwichtigend, ernst oder auch nicht ernst nehmend. Leider haben viele keinen gut ausgeprägten Zugang zu sich selbst und damit auch nicht zu den eigenen Gefühlen. Einschießende Gefühlslagen werden dann schnell als beängstigend erlebt und abgelehnt. Problematisch wird es, wenn Angst uferlos wird und damit von der unterstützenden zur quälenden Angst mutiert. Die klinischen Diagnosemanuale DSM-5 und ICD-10 beschreiben dann in ähnlicher Weise die generalisierte Angst, die Panik(angst), die unterschiedlichsten Phobien und weitere Formen der Angst.
Nach Auswegen suchen
Ein klassischer Angstkreislauf kann wie folgt aussehen: ein Ereignis löst eine Angst oder einen Schrecken und eine körperliche Reaktion aus. Beides steigert sich wechselseitig. Sie schauen beim Flug nach Mallorca in 10000 Metern Höhe, bei Minus 50 Grad und mit 950 Km/h aus dem Fenster und stellen fest, dass die Tragfläche verdächtig intensiv vibriert. Das jagt Ihnen einen Schrecken ein. Dieser löst auf der körperlichen Seite einen beschleunigten Puls und kalten Schweiß aus. Sie stellen sich vor, was alles passieren könnte, wenn mit der Tragfläche etwas nicht in Ordnung ist. Der Puls steigt. Sie schwitzen noch mehr. Dazu kommt eine eigentümliche Enge in der Brust. Das Atmen fällt schwer. Sie befürchten, dass diese körperlichen Symptome kritisch sind oder werden könnten. Hoffentlich kein Herzinf… Was, wenn die Mitreisenden mitbekommen, wie schlecht es Ihnen geht? Außerdem stellen Sie fest, dass Sie jetzt nicht, obwohl Ihnen so sehr danach ist, aus dem Flugzeug aussteigen können. Die körperlichen Symptome nehmen weiter zu. Sie sind gefangen im Angstkreislauf. Obwohl Sie sich hoffentlich und wahrscheinlich wieder beruhigen können, werden Sie dem nächsten Flug mit gemischten Gefühlen entgegensehen. Vielleicht entscheiden Sie auch, besser nicht mehr zu fliegen. Die panikartige Angst mündet in eine Vermeidungshaltung – mit dem Ziel, diese Angst nicht wieder erleben zu müssen. Was tragischerweise genau dazu führt, dass diese Angst umso größer wird. Hier gilt es, Auswege zu finden, um die Angst wieder auf ein handhabbares und lebbares Niveau zu regulieren. Es gibt hervorragende und erfolgreiche Wege aus zu stark gewordener Angst heraus. Auf psychologischer Ebene sind es häufig die paradoxen und konfrontativen Methoden („jetzt erst recht“). Auf geistlicher Ebene ist es der kräftige Zuspruch und die tiefe Meditation des göttlichen „Fürchte dich nicht“ beziehungsweise „Jesus stillt den Sturm“. Und auf körperlicher Ebene ist es alles, was zur Entspannung beiträgt. Und manchmal auch eine bedarfsweise temporär eingesetzte Medikation. Der Mensch ist immer ganzheitlich zu betrachten. Das gilt auch und besonders für die Entstehung und die Bewältigung von zu groß gewordener Angst.
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