Was das Buch der Bücher sagt
Vom Segen der Aufrichtigkeit
Ob Wahrheit individuell oder universell, ob Liebe größer ist als Aufrichtigkeit, ob das, was man sagt, immer umfassend sein muss oder ob es auch Platz für das Zurückhalten gibt; Roland Werner nimmt uns mit auf einen hochinteressanten Weg, der am Ende zu einem erstaunlich unmissverständlichen Ziel führt.
„Für mich gibt es keine größere Freude als diese, dass ich mitbekomme, wie meine Kinder ihr Leben in der Wahrheit Gottes führen.“ So schrieb es Johannes, der Jünger, einer der engsten Freunde von Jesus, im hohen Alter in einem seiner Briefe (3. Johannes 4). Seltsam, diese Betonung der Wahrheit! Ich dachte immer, dass Johannes vor allem die Liebe betont. Altchristliche Traditionen berichten, dass er als uralter Mann in die Gemeindeversammlungen getragen wurde und immer nur dieses Eine sagte: „Kinder, liebt einander!“ Darauf kommt es doch an, auf die Liebe, oder?
Ist Johannes, der Evangelist, von dem unvergessene Sätze über die Liebe stammen, wie zum Beispiel: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab …“ (Johannes 3,16) oder „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1. Johannes 4,16) auf einmal zu einem Wahrheitsfanatiker geworden? Ist das seine größte Freude, und alles andere ist egal?
Wahrheit und Liebe – ein Widerspruch?
Der scheinbare Widerspruch zwischen Liebe und Wahrheit löst sich, wenn wir genauer hinschauen. Wahrheit ist deshalb so grundlegend, weil sie der Liebe erst Gestalt gibt. Liebe ohne Wahrheit verkommt zur Sentimentalität, zur Schau, zur Selbsttäuschung oder geradezu zur Lüge und zum Betrug. Die Liebe braucht die Wahrheit, so wie die Wahrheit die Liebe braucht. Beide sind in Jesus vereint, der die Wahrheit in Person und die Liebe in Person ist.
Als Pilatus fragte: „Was ist Wahrheit?“, schwieg Jesus, weil er schon längst die Antwort gegeben hatte. Und so bleibt es dabei: Wir können die Liebe und die Wahrheit nicht gegeneinander ausspielen. Beides wird in der Bibel immer wieder betont. So schreibt der Apostel Paulus: Lasst uns in echter Liebe die Wahrheit an die vorderste Stelle setzen, und uns in allen Lebensbereichen weiterentwickeln, hin zu ihm, der das wahre Haupt ist, dem Messias“ (Epheser 4,15). Beides gehört untrennbar zusammen: Leben in der Liebe und Leben in der Wahrheit.
Wahrheit und Klarheit
Den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit erkennen wir erst, wenn wir unter der Unwahrheit leben. Menschen in Staaten, die Unwahrheit verherrlichen, wissen das. Aber auch, wer am eigenen Leib eine Rufmordkampagne erfahren hat, fängt an, die Wahrheit zu schätzen.
Das griechische Wort für Wahrheit, aletheia, meint eigentlich das Offenbare, das, was offenbar daliegt, für alle zu sehen. Darin finden sich zwei Grundbedeutungen. Die eine ist Wahrheit als Tatsache. Etwas ist wahr oder es ist unwahr. Und das ist offenbar, für jeden sichtbar. Wahr oder unwahr, richtig oder falsch, versteckt oder offen daliegend.
Wahr oder falsch – dass es diese Unterscheidung gibt, ist für den Fortbestand jeder Gruppe und Gesellschaft unabdingbar. Wenn Menschen anfangen, die Grenzen der Wahrheit abzureißen, wird der Willkür Tor und Tür geöffnet. Dann heißt es auf einmal: „Das ist zwar deine Wahrheit, aber meine Wahrheit ist anders!“ Wer die Wahrheit entwertet und in die Beliebigkeit hineingibt, entzieht jeder lebenserhaltenden Ordnung die Grundlage. Diese wie Knete veränderbare „Wahrheit“ kann keine feste Grundlage mehr bilden. Diese Entwertung von Wahrheit öffnet übrigens auch der Unterdrückung der Schwächeren durch die Starken Tor und Tür. Dann ist es eben die „Wahrheit“ der Überlegenen, die sich durchsetzt. Was das bedeuten kann, haben wir in unserem ausgehenden Jahrhundert zur Genüge erfahren müssen, wo im Namen von Ideologien, die als „Wahrheit“ galten, Millionen Menschen umkamen.
Der archimedische Punkt
Der griechische Philosoph und Mathematiker Archimedes soll gesagt haben: „Gib mir einen festen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde die Welt bewegen!“ Ohne eine Wahrheit, die unverrückbar steht und die – unabhängig vom Verhalten von Menschen und der jeweiligen Modemeinung – fest bleibt, geht alles kaputt. Gott ist diese absolute Wahrheit. Und er setzt ein, was wahr ist. Deshalb heißt „Leben in der Wahrheit“ in diesem Sinne, mehr und mehr in die von Gott geschaffene Wahrheit einzutauchen und sein Leben davon prägen zu lassen.
Was heißt das konkret? Hier ein paar Beispiele zur Veranschaulichung. Es ist wahr, dass alle Menschen im Ebenbild Gottes geschaffen sind. Das heißt in der Konsequenz, dass Hass, Feindschaft und Todeswünsche gegenüber anderen Menschen, mögen sie noch so andersartig oder verkehrt sein, der Wahrheit Gottes nicht entsprechen. Denn nicht wir, sondern Gott ist der Herr über Leben und Tod. Solange er den anderen leben lässt, haben wir ihn zu achten und sogar zu lieben. Das heißt Leben in der Wahrheit.
Ein anderes Beispiel: Es ist wahr, dass Gott gern vergibt und unsere Sünden von uns nimmt, sie nicht mehr gegen uns hält und zurechnet. Als Konsequenz dieser Wahrheit sollen auch wir dem, der gegen uns gesündigt hat, vergeben und ihm die Schuld nicht mehr anrechnen.
Leben in der Wahrheit, die Gott selbst ist. Das ist die Mitte und der Anfang. Deshalb betont Johannes es so: „Für mich gibt es keine größere Freude als diese, dass ich mitbekomme, wie meine Kinder ihr Leben in der Wahrheit Gottes führen.“ Das ist ihm ungeheuer wichtig. Das will er unbedingt weitergeben an die nachfolgenden Generationen.
Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Doch das Wort aletheia hat noch eine weitere Bedeutung. Gemeint ist das Offenlegen des Lebens. Es bedeutet die Wahrhaftigkeit des Herzens, des Redens und des Handelns. Es bedeutet, dass nichts vertuscht, verheimlicht oder kaschiert wird. Geschweige denn, dass Lüge gesagt oder angedeutet wird.
Wahrhaftigkeit. Und hier kommt uns diese Frage plötzlich ganz nah. Kann es sein, dass auch Christen in einer Selbsttäuschung leben, was Wahrhaftigkeit betrifft? Sie verfechten vielleicht die Wahrheit, manchmal mit Energie und ganzem Einsatz, der sich besonders auch gegen andere Christen richten kann, aber sie sind nicht wahrhaftig. Sie täuschen sich selbst und andere. Sie tun frommer und heiliger, als sie sind. Ihren Neid, ihre Eifersucht, ihre Gekränktheit verbergen sie unter wohlklingenden, frommen Worten. Äußerlich betrachtet, formal gesehen, sagen sie Liebes und Aufbauendes. Sie benutzen den religiösen Jargon und meinen, wenn sie die Form bewahren, sei alles in Ordnung. Doch sie sind nicht wahrhaftig, weder vor sich selbst noch vor anderen, weil sie die Wahrheit ihres Herzens, ihre Verletztheit, ihr Gekränktsein, ihre Ablehnung und ihren Hass nicht zugeben wollen. Sie wollen sich nicht in die Karten schauen lassen, schon erst recht nicht in ihr Herz. So spielen sie mehr und mehr sich selbst etwas vor, bis sie schließlich sich selbst so sehr täuschen können, dass ihnen ihre Unwahrhaftigkeit nicht mehr bewusst wird. Nur die anderen merken es, denn sie spüren den kalten Hauch der gespielten Religiosität und die Härte verschlossener Herzen hinter einer frommen, sich liebevoll gebenden, ja vielleicht sogar missionarischen und charismatischen – oder liturgischen – Schale.
Gefangen in Unwahrhaftigkeit, die so sehr zum Eigenen geworden ist, dass man sie nicht mehr erkennen, geschweige denn sich selbst daraus erlösen kann.
Die Wahrheit ist: Wir sind alle so. Wir wollen oft die Wahrheit über unser Leben nicht anschauen und wagen nicht die Wahrhaftigkeit, weil wir dann verwundbar werden.
Heilung durch Wahrhaftigkeit
Aber Gott sucht Wahrheit und Wahrhaftigkeit in uns. Er will uns Stück für Stück in die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit hineinführen. Nur Gott kann das tun. Es ist ein Wunder erster Güte, wenn ein Mensch wahr wird. Und es ist ein noch größeres Wunder, wenn ein Christ wahrhaftig wird. Denn er meint ja, schon längst das Recht auf seiner Seite zu haben.
Kein Wunder, dass Jesus darum in seinem letzten großen Gebet darum gebetet hat: „Heilige sie in der Wahrheit“ (Johannes 17,17)! Kein Wunder, dass er versprach: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen“ (Johannes 8,32)! Und kein Wunder, dass Johannes das als größte Freude in seinem Alter empfindet, wenn Menschen, denen er das Evangelium gebracht hat, durch und durch wahr und wahrhaftig werden. Und in der Wahrheit leben.
Der Segen der Aufrichtigkeit
Es gibt nichts Schlimmeres als Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit. Besonders ätzend ist es, wenn sich Lüge im frommen Gewand tarnt, wenn übles Gerede und falsches Zeugnis um sich greifen und wenn Menschen andere durch Unwahrhaftigkeit fertigmachen.
Aber es gibt auch nichts Schöneres und Lebensfördernderes als Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Wo ein Mensch ehrlich wird, Schwächen und Fehler zugibt und eigene Schuld, Neid und Missgunst nicht mehr auf andere projiziert, sondern sich selbst erkennt – als Sünder und als Erlöster – da blüht neues Leben auf. Da wird Gemeinschaft wieder möglich. Wo wir uns von unseren Lebenslügen abwenden und trennen, ist ein echter Neuanfang möglich. Aber nur da.
Für mich gehört das zu den Quellen jedes geistlichen Lebens. Als ich mich zu Jesus bekehrte, war es für den Pastor, der mich anleitete, selbstverständlich, dass ich eine Lebensbeichte ablegte. Unwahres, Verborgenes musste ans Licht. Dinge mussten in Ordnung gebracht werden.
Das war nicht leicht für mich, meine Schuld und Sünde, meine Fehler und mein Versagen, soweit ich dies alles damals erkannte, auszusprechen und vor ihm und vor Gott zu bekennen. Doch als ich das tat, war auf einmal Freude da, die nicht selbstgemacht war, nicht aufgeputscht oder eingeredet. Sondern: Diese Freude entsprang aus der Doppelquelle der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit. Jetzt war alles gesagt, und alles war gut. Die Maskerade war abgelegt. Und ich konnte mich in Gericht und Gnade im Licht Gottes neu sehen. Eigentlich zum ersten Mal mein wahres Ich erkennen.
Wahr werden und wahrhaftig werden ist ein Weg, der hier im Leben niemals endet und immer neu gegangen werden muss. Es ist ein Weg der Aufrichtigkeit. Es ist der Weg, auf dem die Wahrheit uns zur Liebe befreit. Zur Liebe gegenüber Gott, unserem Nächsten und nicht zuletzt auch zu uns selbst.
Dr. phil. Dr. theol. Roland Werner lebt mit seiner Frau Elke in Marburg, ist Vorsitzender von proChrist und Prior der Christus-Treff Bewegung (Marburg, Berlin, Jerusalem). Weitere Infos unter www.rolandwerner.de
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