In der Einheit mit sich selbst liegt die Kraft
Das gesunde Gewissen
Was ist wohl besser, gültiger, wirksamer: ein guter theologischer Artikel über das Gewissen oder einer, der Geschichten erzählt und das Herz berührt? Nicht, dass sich das zwingend ausschließen müsste. Hans-Arved Willberg hat sich auf die Erzählung konzentriert und die Theologie dabei nicht ausgeschlossen. Damit kommt er uns näher, als mancher sich wünscht.
Ich habe meine Pflicht getan
Kennen Sie Adolf Eichmann? Als Jugendlicher ging er zum CVJM und fühlte sich dort wohl. Dann kam er mit Nationalsozialisten in Kontakt. Eichmann gefiel es, dass dort alles so schön geordnet war. Da musste man nur gehorchen, und wenn man es tat, war man ein feiner Kerl. Er verließ den CVJM und wurde Nazi. Gehorchen zu dürfen und dafür belohnt zu werden, war seine größte Freude. Darüber freuten sich auch seine Führer. Das war einmal ein zuverlässiger Mitarbeiter! Darum ließen sie ihn Karriere machen. Weil er so überaus gewissenhaft war, gaben sie ihm schließlich einen sehr verantwortungsvollen Auftrag, für den keiner so geeignet zu sein schien wie er: Er durfte ein riesiges logistisches Meisterstück bewerkstelligen: Die Koordination sämtlicher Deportationszüge, mit denen alle Juden, die es damals gab, in die Vernichtungslager gebracht werden sollten. Er machte seine Arbeit gut. Als ihm in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, konnte er sich nicht dazu bekennen, ein Verbrecher zu sein. Er hatte ein gutes Gewissen. Er hatte doch nur seine Pflicht getan!
Klar, das war ein pervertiertes Gewissen. Aber woran merke ich, ob mein Gewissen pervertiert ist oder nicht? Jeder überzeugte Rechthaber hat ein gutes Gewissen. Er ist blind für das Unrecht, das er tut. Umgekehrt kann das schlechte Gewissen genauso pervertiert sein – was ganz logisch ist: Angenommen, Eichmann hätte seinen Job nicht gut hingekriegt. Nun, dann hätte er ein sehr schlechtes Gewissen gegenüber seinen Führern gehabt. Möglicherweise hätte er jede Strafe für sein Versagen akzeptiert: „Ich habe nicht alle Juden zu den Gaskammern gebracht, einige sind mir entwischt. Was bin ich für ein Versager!“
Wir hätten gern, dass Menschen wie Eichmann Mühe damit haben, ihr Gewissen zu pervertieren. Es muss doch anstrengend sein, immerzu in einer Lüge zu leben! Wir sind geneigt, diese armen Menschen zu bedauern. Sie sind doch innerlich gespalten! Darunter müssen sie doch leiden! Ich fürchte, dass wir uns da täuschen. Sie leiden keineswegs. Sie fühlen sich gut und gerecht.
Ich habe mich zusammengenommen
Einmal bekam Eichmann dann doch ein Problem mit seinem guten Gewissen: Da war ihm befohlen worden, sich mal vor Ort sehen zu lassen, da, wo es zur Sache ging. Da sah er einen Vergasungswagen aus der Nähe und sah, wie sie da hineingeprügelt und ermordet wurden. Da sah er, wie das Vernichten in der Praxis ging. Er musste nachher zugeben, dass ihm da nicht mehr wohl war. Fast hätte er da sogar ein schlechtes Gewissen bekommen. Aber er nahm sich zusammen.
Wollen Sie Ihr Gewissen überprüfen? Es gibt gute Gelegenheiten dazu. Suchen Sie öfter mal eine der vielen KZ-Gedenkstätten auf. Machen Sie Urlaub in Polen und gehen Sie nach Auschwitz. Schauen Sie hin. Werden Sie Augenzeuge im Nachhinein. Lassen Sie sich berühren.
In der Tat: Eichmann hatte noch ein anderes Gewissen als das verlogene der Autoritätsergebenheit. Aber er hatte es eingebunkert. Er fand es gefährlich. Es hätte ihn ja am Ende verunsichern können! Darin besteht das wirklich Böse unter uns Menschen: In der Einbunkerung des lebendigen, ehrlichen Gewissens, um das falsche, verlogene Gewissen nicht zu gefährden.
Uneinsichtige Gewalt- und Sexualstraftäter werden, so weiß man heute, am besten therapiert, wenn man sie unerbittlich mit ihren Taten und ihren Opfern konfrontiert. Nur wenn sie wirklich sehen und nachfühlen, was sie diesen anderen Menschen angetan haben, können sie zu echter Reue und Umkehr finden. Weder die Strafe bewirkt das, so berechtigt sie sein mag, noch die Selbstbeschuldigung. Man kann sich auch in Selbstabwertungen flüchten, um sich der Verantwortung zu entziehen, bis hin zum Suizid, nur um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen. Das Auge der Wahrheit ist der Blick des Menschen, den sie misshandelt haben.
Ich hab mich geschämt
Kennen Sie die Geschichte von Petrus in der Nacht, als Jesus gefangen genommen und gefoltert wurde? Er scheint ein gutes Gewissen gehabt zu haben, als er das Schwert zog und einem der Soldaten, die Jesus abführen sollten, fast den Schädel spaltete, obwohl das völlig unsinnig und dumm war und ihn und alle anderen, die zu Jesus gehörten, in höchste Lebensgefahr brachte. Er scheint sich heldenhaft gefühlt zu haben, als er dann auch noch die Dreistigkeit besaß, dem Verhaftungskommando bis in den Hof des Hohenpriesters zu folgen, wo sie Jesus schlugen und verhörten, und wahrscheinlich fand er es schlau, so cool zu lügen, als man ihn dort erkannte. Und dann schaute er zufällig durch das Fenster und sah Jesus, und Jesus sah ihn an. Da wurde er berührt. Da brach er zusammen und konnte nur noch weinen.
Unser Gewissen wird lebendig, frei und echt, wenn uns die Liebe berührt. Die Liebe konfrontiert uns unerbittlich mit der Wahrheit. Wenn Sie nach Auschwitz gehen und diese entsetzliche Wahrheit sehen, wenn Sie nicht wegschauen, sich nicht ablenken, sich nicht zerstreuen, sondern standhalten und betroffen weinen, dann hat Sie die Liebe berührt.
Man kann über das Gewissen viele gute und wichtige theologische, philosophische und ethische Aussagen machen. Ich könnte das jetzt auch. Aber so ist das eben: Solange wir uns aus sicherem Abstand heraus über das interessante Thema „Gewissen“ Gedanken machen, spüren wir den Unterschied nicht, um den es geht. Dann haben wir einen mehr oder weniger interessanten Artikel zum Thema „Gewissen“ gelesen und haken ihn ab. Im schlimmsten Fall wird ein gewissenloses Palavern über das Gewissen daraus. Wir können uns aber auch berühren lassen. Dann antwortet das Herz auf den Text. Dann können wir wie Petrus dem Blick der Liebe begegnen.
Wenn die Liebe uns berührt, verliert die Unterscheidung zwischen dem „guten“ und dem „schlechten“ Gewissen alle Bedeutung. Wir wählen nicht mehr zwischen „gut“ und „schlecht“, sondern wir antworten auf die Berührung. Wir versuchen nicht mehr, selber recht zu sein, sondern wir geben der Liebe Recht. Darin liegt das Geheimnis der Selbstfindung. Wenn uns die Liebe berührt und wir ihr Recht geben, finden wir zu uns selbst. Wenn wir zu uns selbst finden, wird unser Gewissen demütig und furchtlos zugleich.
„Das Gewissen ist der aus einer Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst“, hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik geschrieben. Diese „jenseitige Tiefe“ ist die Liebe Gottes. In der „Einheit mit sich selbst“ liegt die Kraft des gesunden Gewissens.
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