Unten mit oben verbinden
Beten ist schön. Und manchmal schwer. Warum Markus Lägel trotzdem nicht aufgibt.
„Ich hasse Gebet!“ Ich traue meinen Ohren kaum, denn der Mann, der das sagt, ist nicht irgendwer, sondern ein ehemaliger Pastor. Ich bin irritiert: Hat er gerade tatsächlich gesagt, dass er Gebet hasst? Ich meine, wenn er gesagt hätte: „Ich hasse langweilige Gottesdienste oder heuchlerische Prediger und peinliche fromme T-Shirts.” Aber Gebet? „Es funktioniert nicht so, wie es sollte“, lautet eine seiner Begründungen.
Ein Freund von mir liebt Motorräder. Fast immer trifft man ihn in seiner öligen, nach Benzin und alten Lappen riechenden Garage an. Er hockt vor seiner geliebten „Karre“, schraubt, verbessert, bastelt. Und ruft, als nach der Reparatur wieder mal ein paar Schrauben übrig sind: „Ich hasse das Ding! Es funktioniert nicht so, wie es sollte!“ Ein anderer Freund liebt Computer. Er arbeitet mehr an dem Computer, als dass er mit ihm arbeitet, aber er liebt diese Bastelei. Hier eine neue Grafikkarte, da noch eine Festplatte, dieses Programm installieren, jenes Spiel zum Laufen bringen. Doch wie oft hört man auch sein Schimpfen: „Ich hasse das Teil! Es funktioniert nicht so, wie es sollte.“
Ich „hasse“ Gebet auch, denn es funktioniert nicht so, wie es sollte. Aber ich hasse auf die Art, wie mein Kumpel sein Motorrad hasst, weil er es eben wieder zum Laufen bringen will. Oder wie der Computerfreak, der bloß möchte, dass auch dieses Programm läuft und jener Drucker erkannt wird. Natürlich rede ich hier nicht von Hass im Sinne von „etwas oder jemand abgrundtief zu verachten oder abzulehnen“. Aber es wühlt mich auf, beschäftigt mich, treibt mich um, weil ich eben noch nicht fertig bin mit dem Thema Gebet. Und davon abgesehen gibt es etwas, das weitaus gefährlicher ist: Gleichgültigkeit. Wenn uns etwas egal wird, dann wird es gefährlich. Das Motorrad verrostet, verdreckt und wird zur Unfallquelle. Der Computer wird langsam, wird virenanfällig und das Arbeiten mit ihm zur Qual. Und das Gebet wird ... ergänzen Sie selbst!
Sie mögen Gebet nicht? Sie finden, das ist was für Langweiler? Für Leute, die nur reden, statt zu handeln? Sie finden Gebet weltfremd – und wenn es doch etwas verändern sollte, dann nur bei anderen? Prima! Dann fangen Sie doch an zu schrauben, zu basteln, zu lernen. Aber bleiben Sie dran! Denn Gleichgültigkeit ist schlimmer.
Befreit von Schmutz
Gebet ist Kommunikation, die von Gott ausgeht, ist Beziehung mit Gott, ein Sich-Öffnen für sein Reden und Handeln. Und an dieser Kommunikation darf und muss herumgeschraubt, gebastelt, geölt und geputzt werden. So wie ich das Motorrad von Dreck und Rost befreien muss, den Computer von Viren und Datenmüll, so befreie ich das Gebet, damit es Kommunikation bleibt. Der Pastor und Buchautor Floyd McClung hat einmal provozierend gesagt: „Gott sei Dank, ich bin befreit von Stiller Zeit! Jetzt kann ich endlich Freundschaft mit Gott haben. Früher betete ich eine halbe Stunde pro Tag, jetzt kann ich den ganzen Tag beten.“
Manche Arten zu beten können auf uns dieselbe Wirkung haben, wie Schuhe in der falschen Größe: sie schmerzen und lähmen. Aber hört man deshalb auf zu laufen? Sollen wir aufhören zu beten, nur weil manche Arten zu beten für uns nicht mehr so hilfreich sind, wie sie es einmal waren (und vielleicht auch wieder werden)? Das, was anderen beim Beten hilft, muss mir noch lange nicht helfen. Und das, was mir nicht hilfreich erscheint, kann für andere zur Offenbarung werden. Ich persönlich liebe es, mit Psalmen zu beten. Das ist für mich intensiv, inspirierend und macht mir wirklich Spaß. Andere können damit gar nichts anfangen. Aber das spielt keine Rolle, denn um Äußerliches geht es nicht. Es geht vielmehr darum, mit Gott zu kommunizieren, mit ihm zu reden und auf ihn zu hören. Es geht nicht um bestimmte Lieder, Tageszeiten oder Andachtshefte. Manche meinen, dass Gebet immer laut, wild und feurig sein muss. Muss es nicht, aber es darf es sein. Und doch ist das kein Kriterium, um die Qualität meiner Beziehung mit Gott zu messen.
Ist Liebe etwa immer heiß, romantisch und riecht nach Vanille? Nein! Liebe ist, wenn Papa die Windeln seiner Kinder wechselt (und die meiner Kinder rochen noch nie nach Vanille)! Es ist Liebe, der vergesslichen Oma täglich neu zu erzählen, wer man ist, wie man heißt und weshalb man ihr das Essen bringt. Es ist Liebe, wenn mich das Leben eines anderen Menschen bewegt und berührt. Es ist Liebe, wenn mich diese Berührung Opfer kostet.
Es ist Gebet, wenn Gott mein Leben berührt. Und wenn er mir gestattet, ihn zu berühren. Und es ist jedes Opfer der Welt wert, diese Art von Gebet zu leben. Gott zu begegnen ist es wert, morgens früher aufzustehen, um in seinem Wort zu lesen – auch wenn ich es nicht als feurig und begeisternd empfinde. Gott zu begegnen ist es wert, Zeit zu opfern, um auf ihn zu hören – selbst wenn ich scheinbar nichts vernehme.
„Gebet bringt uns zu den leidenden Menschen – und die leidenden Menschen bringen uns zum Beten.“
Den Himmel berühren
„Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tag eine Freude machen könne. Wenn dies als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vorteil bei dieser Änderung.“ Diese Worte schrieb Friedrich Nietzsche im Jahr 1877. Er hätte eigentlich schon wissen können, dass Gebet und praktisches Handeln kein Gegensatz, kein verschiedenes Paar Schuhe sind. Er hätte nur den Roman „Die Elenden“ („Les Misérables“) von Victor Hugo lesen müssen, der wenige Jahre vorher erschienen war. Dieser beschreibt unter anderem den eben zum Bischof gewählten Pfarrer Monseigneur Myriel. Myriel ist ein wirklich bemerkenswerter Mann, den man seiner Gastfreundschaft wegen auch „Willkomm“ nennt. In direkter Nachbarschaft seines bischöflichen Heimes befindet sich ein ärmliches Hospital. Nach einer kurzen Stippvisite, die ihm die unerträglichen Zustände offenbart, zitiert er den Leiter des Hospitals in seinen Speisesaal und fragt diesen dann: „Wie viele Betten, meinen Sie, würde dieser Saal fassen?“ Er blickt in seinen Speisesaal: „Mindestens 20 Personen!“ Um dann fortzufahren: „Es liegt hier ein großer Irrtum vor. Sie leben mit 26 Personen in wenigen Zimmern, während wir hier dieses riesige Haus bewohnen. Das muss ein Irrtum sein. Geben Sie mir mein Haus zurück. Dieses hier ist das Ihrige.“ Und prompt tauschen sie die Häuser. Sein Gehalt gibt der Bischof zu 90 Prozent für karitative und missionarische Notwendigkeiten aus und behält für sich nur die sehr knappe Ration, die für Witwen üblich ist. Er besucht die Armen, wenn er Geld hat. Und wenn er keins mehr hat, besucht er die Reichen. Dieser Bischof hat eine sehr inspirierende Definition vom Beten: „Im Geiste das Unendliche unten mit dem Unendlichen oben in Berührung bringen.“
Die Nöte dieser Welt sind nicht dazu da, um uns herunterzuziehen, sondern nach oben. Wenn sie uns runterziehen, dann nur auf die Knie. Gebet, das sich nur um das eigene Wohlempfinden und die eigenen Sorgen dreht, hat diesen Namen nur bedingt verdient. Beten ruft Handeln hervor, ebenso wie Feuer wärmt. „Ob wir Gott lieben, wissen wir nicht. Ob wir unseren Nächsten lieben, sieht man“, sagte einst Teresa von Avila. Aber Figuren wie Bischof Myriel gibt es nicht nur in Romanen. Natürlich leuchten Menschen wie Franz von Assisi, Mutter Teresa oder Dietrich Bonhoeffer aus der Geschichte hervor, als Vorbilder und Menschen, die in ihren mehr als herausfordernden Zeiten die Hände zum Gebet falteten und erhoben, nur um sie für die Leidenden wieder zu öffnen. Aber sie sollten keine Ausnahmen sein, sondern Ansporn für uns, ebenso zu leben: Zu beten, als ob alles von Gott abhängt, und gleichzeitig so zu leben, als ob alles von uns abhängt. Ich habe in meinem Umfeld Vorbilder, die für die meisten Menschen immer unbekannt bleiben werden, doch die genau das tun. Sie heißen Walter oder Sabine, Ralf oder Barbara, Thomas oder Johanna. Teresa von Avila beendete ihren Satz mit einer Aussage, die vielleicht unsere häufig gestellte Frage – „Warum hört Gott mein Gebet nicht?“ – beantwortet: „Gott liebt uns so sehr, dass er als Lohn für die Liebe, die wir dem Nächsten entgegenbringen, unsere Liebe zu ihm tausendfältig wachsen lässt.“
Gebet bringt uns zu den leidenden Menschen – und die leidenden Menschen bringen uns zum Beten. Die Nöte dieser Erde, die wir angehen sollen, sind unendlich. Es gibt nur einen Grund, die Flinte nicht ins Korn zu werfen: dass die Möglichkeiten Gottes ebenso unendlich sind. Geben wir den Menschen, was sie verdient haben: unsere Gebete. Seien wir den Nietzsches von heute, den Kritikern und Zweiflern, ein Vorbild: Verbinden wir das Unendliche hier unten mit dem Unendlichen oben. Und übrigens: Ich liebe Gebet! Auch wenn es manchmal einfach nicht funktionieren will.
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