Wir lagen auf der Wiese

Essay

Verena Birchler ist ein Mensch wunderbarer Direktheit. Einfach, gerade und dabei so herrlich herzlich. Von ihr wollten wir gern wissen, was sie den Sorgen ihres Lebens entgegensetzt. Wie sie dem begegnet, was sich ihr unausweichlich in den Weg stellt. Und schließlich natürlich auch, woher denn wohl Gelassenheit kommt. Lesen Sie selbst.

„Minutt for Minutt“ ist ein sogenanntes „Slow TV“-Format, in dem eine Kamera nichts anderes tut, als zu zeigen, was gerade geschieht. Erfunden haben es die Norweger 2009 mit einer Zugfahrt zum 100. Geburtstag der Bahnstrecke Bergen - Oslo. 1,2 Millionen Zuschauer fuhren damals live am TV mit. Bis heute bleibt Slow TV ein Hype. Diese Live-Übertragung dauerte knapp acht Stunden. Danach folgten weitere Projekte als Gegengift zum Stress der hektischen Normalität. Ohne Musik, ohne Kommentar. Hauptsache slow. Vor einigen Jahren übertrug das norwegische Fernsehen dann die Fahrt auf der Hurtigrute von Bergen bis nach Kirkenes. Das waren fünfeinhalb Tage Entspannung. Diese Sendungen wurden nicht auf irgendeinem Hinterhofsender ausgestrahlt, sondern auf dem norwegischen Hauptkanal. Die Einschaltquote lag bei 40 %. Skandinavier sind einfach viel entspannter als wir. Gelassener. Diesen Zustand nennen die Nordleute „Hygge“.

Viel Meinung, wenig Fakten

Diese Gelassenheit wäre auch für uns Mitteleuropäer eine Möglichkeit, aus unserem Alltagsstress auszubrechen und der Seele neue Impulse zu geben. Fast alle suchen schließlich heute genau das. Gerade in der gegenwärtigen Situation erleben wir den Mangel an dieser Form von Lebensqualität tagtäglich. Ein Blick in die Kommentarspalten oder in die sozialen Medien zeigt, dass wir in einer Empörungsgesellschaft leben. Egal was passiert, wir sind blitzschnell auf hundertachtzig. Unsere Gesellschaft reagiert mittlerweile fast immer lautstark, brüllt in den sozialen Medien herum, meint zu allem und jedem eine Meinung von sich geben zu müssen. Da gibt es oft viel Meinung bei wenig Fakten. 

Und der Ton wird zusehends rauer, anstandsloser, beleidigender, verletzender. Viele Christen sind dabei erschreckend stark unterwegs. Nur ein paar Stichworte: Trump, Corona, Putin, Israel oder Genderthemen. Dabei hat uns Gott ein wunderbares Geschenk für unser Leben gegeben. „Denn Gott hat uns gegeben den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7) Mit der Besonnenheit tun wir uns aber offensichtlich zunehmend schwer. Wir könnten so viel verändern, wenn wir dieses Geschenk pflegen würden!

„Je älter ich werde, umso mehr verstehe ich Tucholsky. Vielleicht ist es das Vorrecht von uns Älteren, nicht mehr überall unseren Senf dazu geben zu müssen.“

Ich schweige immer öfter

Mir persönlich war diesbezüglich der Grabstein von Kurt Tucholsky eine Inspiration. Ich habe auf einer Reise in Schweden sein Grab in Gripsholm besucht. In seinem Roman „Ein Sommer auf Gripsholm“ schrieb er seinen berühmten Satz: „Wir lagen auf der Wiese und baumelten mit der Seele.“ Seither lassen wir gerne mal die Seele baumeln. Aber auf seinem Grab steht noch eine andere wichtige Erkenntnis eingraviert: „Schweigen – Schreiben – Sprechen“. Ein gutes Prinzip in Zeiten, in denen wir nicht so gelassen und besonnen durchs Leben gehen. Wir leben zu schnell, zu laut, zu intensiv. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. 

Je älter ich werde, umso mehr verstehe ich Tucholsky. Vielleicht ist es das Vorrecht von uns Älteren, nicht mehr überall unseren Senf dazugeben zu müssen. Jedenfalls beobachte ich das bei mir. Ich schweige immer öfter. Nicht im Sinne von: „Ich habe resigniert“. Eher im Sinne von: „Muss ich wirklich dazu etwas sagen?“ Wenn meine pubertierenden Nachbarsjungs zu allem ihre Kommentare abgeben, denke ich oft, ich war genauso. Junge Menschen dürfen das. Aber von älteren erwarte ich schon etwas mehr Reflexion. Manchmal ärgern mich die Jungs mit irgendwelchen radikalen Äußerungen. Dann versuche ich immer, mir vorzustellen, wie sie in zehn Jahren sein werden. Und ich erinnere mich dankbar, wie Menschen mich ertragen haben und dass es damals noch keine sozialen Medien gegeben hat. Mein Glück.

Ich will Menschen inspirieren

In den letzten Jahren hat mich eine Frage intensiv beschäftigt: Wofür setze ich meine restliche Lebenszeit ein? Nein, ich bin nicht mehr bereit, stundenlang mit Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen zu diskutieren. Vor Kurzem wollte mich ein leidenschaftlicher AfD-Anhänger herausfordern. Ich kenne ihn seit Jahren, da geht es in Gesprächen schon lange nicht mehr um Meinungsbildung. Es geht nur noch um „ich habe recht und du bist zu dumm, das zu erkennen“. Ich habe ihm dann ganz ruhig erklärt, dass ich meine mir verbleibende Lebenszeit nicht mehr für solche Gespräche nutzen möchte. Um es mit einem Filmzitat auf den Punkt zu bringen: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß.“ Nach wie vor diskutiere ich gerne über aktuelle Ereignisse. Ich lasse mich gerne auch auf engagierte Streitgespräche ein, sofern sie frei sind von irgendwelchem Fanatismus. Dafür ist mir meine Zeit zu schade, die investiere ich lieber in konstruktive Begegnungen. 

Ich freue mich über diese neue Gelassenheit, die eigentlich so gar nicht zu meinem Temperament passt. Vielleicht hat die intensivere Auseinandersetzung mit der Bibel geholfen, vielleicht ist es diese Altersmilde, vielleicht sind es diese vielen Erfahrungen, in denen ich versagt habe. Nach meiner Pensionierung habe ich mir viel Zeit genommen, mein bisheriges Leben auszuwerten. Neu zu justieren. Was ist mir wichtig? Meine dritte Lebensphase bin ich wie ein persönliches Start- Up angegangen. Dabei habe ich mich entschieden, nur noch wenige Seminare durchzuführen, nur noch wenige Texte zu schreiben, dafür aber mehr in Menschen zu investieren. Für mich erfüllt sich das vor allem in meiner Nachbarschaft und in meinen Aufgaben als Reiseleiterin. Was gibt es Schöneres, als Menschen inspirieren zu können! Sei es für ein Land, für eine Kultur, für neue Sichtweisen über Gottes Wesen. Und Gelassenheit braucht es auf Reisen immer. Vor allem, wenn man für ganze Gruppen verantwortlich ist. Hier investiere ich gerne einen Teil meines letzten Lebensabschnittes. Und dabei möchte ich von Jesus lernen.

„Ich freue mich über diese neue Gelassenheit, die eigentlich so gar nicht zu meinem Temperament passt.“

Wer weiß, vielleicht hat auch Tucholsky sich von Jesus inspirieren lassen, als sich die Worte „Schweigen –  Schreiben – Sprechen“ in seinem Kopf eingenistet haben. Mich jedenfalls erinnern diese drei Worte an viele Geschichten, in denen Jesus genau diesen Dreiklang gelebt hat. Damit ich zu dieser Gelassenheit komme, muss ich immer wieder Tempo aus meinem Alltag nehmen und mein ganz privates Slow TV starten.