Die destruktive Macht
Ratgeber
Es gibt Momente, da will man keine Nachrichten mehr hören, weil sie einen in den Abgrund ziehen. Alles klingt schlecht, kaputt und destruktiv. Nichts, was einen aufbaut, Sorgen über Sorgen. Wer will das schon? Andreas Dippel kennt diese Momente: als Medienmacher und Mediennutzer. Er meint, der Mensch bekommt, was er begehrt, und destruktiv sei eigentlich nicht schlecht.
Destruktiv – was für ein seltsamer Begriff. Vor allem aber ein negativer. Das Gegenteil von konstruktiv, etwas aufrichten, erbauen. Also: niederreißen, zerstören. Beim Blick in die Onlinemedien und Nachrichtensendungen beschleicht uns der Eindruck, dass in der Tat alles kaputt ist. Dass Medienmacher nur Negatives berichten und das Gute weglassen. Es zieht uns förmlich runter – und kein Wunder, dass immer mehr Menschen die Nachrichten erst gar nicht einschalten. Zu destruktiv das alles. Es hat aber zwei Seiten, wie jede Medaille. Die eine: Journalisten blicken auf das, was nicht gut läuft. Sie hinterfragen manche Aussage und haben das erklärte Ziel, Dingen auf den Grund zu gehen. Dabei kommt so manches ans Tageslicht, was das klare Wasser trübt. Medienmacher wollen nicht zwingend zerstören, eher an Behauptungen rütteln. Für so manchen ist es erklärtes Ziel, Gäste in ihren Talkshows in die Enge zu treiben. Zugegeben, das enthält einen Hauch von Zerstörungswillen.
Fragen über Fragen
Medienmacher hinterfragen ständig. Meint es das Unternehmen wirklich ernst mit seiner Zusage, keine Arbeitsplätze zu streichen? Ist das neue Automodell wirklich so solide wie in dem Firmenvideo vorgeführt? Oder führt das politische Programm einer Partei wirklich zu mehr Wirtschaftswachstum? Journalisten müssen solche Fragen stellen, bevor sie berichten oder kommentieren. Es ist ihr Job, destruktiv zu denken. Was auch dazu führt, Kritikwürdiges aufzudecken und zu melden.
„Only bad news are good news“ („Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“) lautet folgerichtig auch der bekannte Leitsatz der Medienmacher. Doch nicht nur Journalisten, auch wir Medienkonsumenten interessieren uns mehr für das Alarmierende, die lauten Schlagzeilen statt für sachlichkonstruktiv getextete Überschriften. Ein Beispiel gefällig? „Mega Zoff in der Regierung“ schafft wesentlich mehr Aufmerksamkeit als dieser Satz: „Die Verantwortlichen der Regierung diskutieren ein Thema und suchen gemeinsam nach der besten Lösung.“ Medienmachern ist das völlig klar – und doch sind es wir Leserinnen und Leser, die genau das wollen. Lieber verkürzte Schlagzeilen und knappe Aussagen statt langer Erläuterungen, die möglichst ausgewogen einen Sachverhalt darstellen.
Alles nur Aufmerksamkeit
Die sozialen Medien tragen ihren Teil dazu bei. Nein, nicht die sozialen Medien, sondern die Menschen, die mit ihren Tweets auf der Plattform X, Kommentaren auf Facebook oder Kurzvideos auf TikTok genau dieser Sehnsucht nach knappen Aussagen nachkommen. Und wir? Fallen darauf rein. „Clickbait“ ist so eine Masche. Dabei geht es lediglich darum, mit Überschriften oder Aussagen Klicks zu generieren. Je mehr Klicks, umso besser die Bezahlung durch Werbung und Reichweite. Der kluge Religions- und Politikwissenschaftler Michael Blume erklärt in seinem Buch „Verschwörungsmythen“ (erschienen 2020 im Patmos Verlag) sehr eindrücklich, warum wir Menschen auf solche verknappten und alarmierenden Schlagzeilen abfahren: Weil negative Emotionen wie Angst oder Schmerz die Funktion haben, uns vor Gefahren zu warnen, werden sie von unserem Gehirn tendenziell stärker gewichtet. Auf was springen wir also am ehesten an? Ganz klar: auf „bad news“, auf schlechte Nachrichten, reißerische Überschriften, brutale Bilder. Sie lösen einen alarmierenden Impuls in uns aus, eine Ausschüttung von Endorphinen, um uns wach zu machen. Deshalb brauchen gute Geschichten spannende Schurken – und wenn unser Gehirn keine Gefahr findet, tendiert es dazu, sie zu erfinden. Je sicherer wir leben, desto mehr genießen wir Krimis und Thriller.
„Weil negative Emotionen wie Angst oder Schmerz die Funktion haben, uns vor Gefahren zu warnen, werden sie von unserem Gehirn tendenziell stärker gewichtet.“
So sieht’s leider aus
Diesen Umstand machen sich so manche Meinungsmacher zunutze. „Das klingt zu gut, um wahr zu sein“ ist der Kerngedanke, der uns vermittelt wird und den Boden für Halb- und Unwahrheiten bereitet. „Fake News“ nennt man das. Es sind falsche Nachrichten, die bewusst veröffentlicht werden, um zu verunsichern. Ein Problem, das von den Betreibern sozialer Medien kaum noch zu kontrollieren ist. Radikale machen sich das zunutze. Es geht einher mit einem Dauerfeuer auf etablierte Medien. Journalisten werden beschimpft, mittlerweile nicht mehr nur anonym im Internet, sondern auch auf offener Straße. Wohlgemerkt: auch in Demokratien, in denen das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit im Grundgesetzt verankert sind. Auf diesem Nährboden reifen Fake News, die von der Erfindung vermeintlicher Skandale, Machenschaften einflussreicher Menschen im Hintergrund oder schlicht Unwahrheiten leben. Wir sind dafür anfällig, ob wir wollen oder nicht. Die Beispiele sind endlos, es genügt, drei Minuten auf X oder TikTok zu scrollen, und wir werden überhäuft von Schlagzeilen im eigentlichen Sinn des Wortes. Was macht das mit uns? Diese ständige Ausschüttung von Endorphinen, die uns aufrütteln?
Wir brauchen Zeit
Michael Blume schreibt richtigerweise, dass wir uns bei diesen Dauerimpulsen nicht mehr einer sachlichen Beurteilung und dem gesunden und notwendigen Hinterfragen stellen. Denn dafür benötigen wir Ruhe und klare Gedanken statt impulsiver Reaktionen. Wir brauchen die Zeit, um Aussagen, die uns auf den ersten Blick schlüssig erscheinen, zu bewerten. Doch wer will das schon? Durch einen impulsgesteuerten Medienkonsum lassen sich viele lieber in ihren Ansichten bestärken.
Also, ein Rat: Statt vorschnell zu urteilen, ist es wichtig, abzuwarten. Statt sich seine Meinung von dem permanenten Strom an Meinungsäußerungen zu bilden, ist es wichtig, zu fragen: Wer schreibt denn hier? Wie kann ich diesen Menschen im Gesamtkontext seiner Äußerungen einordnen? Woher hat er seine Informationen? Stimmt das überhaupt, was er oder sie da behauptet? Das sind grundlegende Fragen, denen sich Journalisten von Tageszeitungen, seriösen Nachrichtensendungen und im Radio täglich stellen. Sie gehören zu ihrem Kerngeschäft. Sie müssen sich ein Mindestmaß an Zeit nehmen, um zu bewerten. Die meisten von ihnen nehmen sich mehr Zeit dafür, als wir es im Alltag tun oder tun könnten, und bringen beachtliche Ergebnisse ans Licht.
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