Schluss mit dem Tunnelblick

Essay

Wer einer Routine nichts abgewinnen kann, nimmt sich manch wertvolle Momente des Tages, so viel ist mal klar. Und wer meint, ganz ohne auskommen zu können, auch. Dr. Simone Flad ist der Frage nachgegangen, wie bewusst regelmäßige Gebetszeiten, und seien sie noch so kurz, dem Alltag Stabilität verleihen.

Als Christen sind wir mit Gott unterwegs – theoretisch jedenfalls. Praktisch ist es doch oft so, dass wir Gott in unserem normalen Alltag oft vergessen, ihn aus dem Blick verlieren, überhaupt nicht an ihn denken. Wir reservieren für ihn den Sonntagmorgen und die besonders schönen oder schweren Zeiten. Den Rest versuchen wir allein zu managen. Damit schneiden wir uns selbst von einer wichtigen Lebensader und Kraftquelle ab. Wir bekommen einen Tunnelblick, sehen nur uns selbst und verlieren die größere Perspektive. 

Ändern kann sich das zum Beispiel durch Beten. Beten hilft, nicht nur auf mich und meine Situation fokussiert zu bleiben. Das Beten macht mich auch offen für Gott und sein Wirken. Es weitet meine Perspektive. Es hilft gegen den bereits erwähnten Tunnelblick. 

Das Beten und mein Alltag passen aber gar nicht so ganz einfach zusammen. Das Mönchtum hat deshalb die Stundengebete entwickelt: bis zu 8 Mal über den Tag (und die Nacht!) verteilt trifft sich die Klostergemeinschaft zum Innehalten, zum Gebet. Nun ist dieses Arrangement für „normale“ Christen wenig praktikabel. In unseren Alltag passt das nicht hinein – weder ins Büro noch in die Werkstatt. Es passt auch nicht zu Kunden, Kindern und Kollegen, die etwas von uns wollen. Wie können wir uns also immer wieder – in unserem normalen Alltag – auf Gott ausrichten und uns ihm öffnen? Ich bin da wahrlich keine Expertin und immer weiter am Lernen. Doch ein paar Dinge, die mir helfen, möchte ich gerne weitergeben.

Gebet zu Tisch

Eine gute Hilfe zum kurzen Innehalten im normalen Alltag ist für mich das Tischgebet. Oft ist es leider einfach nur ein kurzes Ritual. Dabei kann es viel mehr sein! Wenn ich das Tischgebet bewusst bete, hilft es mir meine Perspektive zurechtzurücken. Dabei ist es egal, ob ich ein vorformuliertes Gebet spreche oder frei bete. Ich wende mich mit meinem Gebet an den großen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde – der mich kleinen Menschen versorgt! Auch heute. Das Essen vor mir ist dasselbe – ob mit oder ohne bewusstes Dankgebet. Aber meine Perspektive verändert sich. Meine Gedanken kreisen nicht mehr nur um mich. Ich erkenne: Gott ist mit dabei, er gibt reichlich und versorgt mich, wie er es versprochen hat!

Gebet am Morgen

Ganz wichtig ist für mich eine Gebetszeit am Morgen. Ich brauche Gott nicht „herbeibeten“ – er ist da, er ist bei mir. Das hat er in seinem Wort versprochen. Aber das bewusste Gebet am Anfang des Tages hilft mir, das nicht zu vergessen. Ich danke dann Gott für den neuen Tag und lege ihn bewusst in seine Hände – die Dinge, auf die ich mich freue, die mir Sorgen machen, wo ich unsicher bin oder die einfach anstehen. Und auch die Dinge, die unerwartet kommen werden– unerwartet schöne oder auch unerwartet schwere Dinge. Mir gefällt der alte Ausdruck: „Gott den Tag anbefehlen“. Ich überlasse ihn Gott, ich vertraue ihn Gott an. Gerade auch die Situationen, auf die ich mich vielleicht nicht freue. Bei Gott ist mein Tag gut aufgehoben. Er wird bei mir sein, ich bestreite den Tag nicht allein. Das gibt Gelassenheit und Zuversicht.

Gebet am Abend

Dazu gehört auch das Gegenstück – das bewusste Abendgebet. Das praktiziere ich noch nicht so lange. Aber ich merke immer wieder, wie es fehlt, wenn ich zu müde oder zu faul dazu war. Mein Abendgebet hilft mir den Tag zu reflektieren, alles, was war, wieder bewusst in Gottes Hand zu legen, es ihm anzuvertrauen – das, was schön und gut war, was mir gelungen ist. Genauso wie das, was schwierig war, wo ich nicht weiß, ob ich richtig gehandelt habe. Auch das, wo ich schuldig geworden bin. Es tut meiner Seele gut, das alles bei ihm abzulegen. Ich rechne dabei auch nicht nur mit meinen Möglichkeiten. Gott kann weiterhelfen. Er vergibt. Er rückt meine Perspektive auf manche Ereignisse des Tages zurecht. Und ich bitte ihn um einen behüteten Schlaf und eine Regeneration der Kraft in dieser Nacht, damit ich den nächsten Tag mit seinen Anforderungen angehen kann.

„Ich nehme Gott bewusst mit in die Situation hinein. Ich erinnere mich daran, dass ich zu ihm gehöre und nicht allein bin – auch wenn ich mich gerade so fühle.“

Kurze Stoßgebete

Und dann sind da noch die vielen anderen Situationen während des Tages, die einen hilflos machen, die einem Probleme aufzeigen oder wo man von Nöten hört. Durch das Beispiel einer Kollegin habe ich mehr und mehr gelernt, für Menschen oder Situationen direkt zu beten, wenn ich davon höre und nicht damit zu warten, bis ich meine Gebetszeit habe. Denn die Erfahrung ist dann leider oft, dass es bis dahin schon wieder vergessen ist. Wir denken oft so mitten im Alltag keine Zeit für Gebete zu haben. Aber das stimmt so nicht unbedingt. Natürlich gibt es Situationen, in denen man einfach nur reagieren muss. Aber selbst in der stressigsten Situation kann ich mit Psalm 118, 25 beten „oh Herr hilf, oh Herr lass wohlgelingen“! Das manchmal verpönte Stoßgebet hat eindeutig seinen Platz in der Beziehung mit Gott. 

Zwischendurch Gebete

Aber auch längere Gebete können ihren Platz finden: beim Autofahren oder Wäsche aufhängen, solange der PC hochfährt oder auf dem Weg ins Besprechungszimmer – es gibt viele Gelegenheiten, in denen ich mich mit dem, was mir auf der Seele liegt, kurz an Gott wenden kann. Gerade vor schwierigen Gesprächen oder Aufgaben lohnt sich das Innehalten. Ich nehme Gott bewusst mit in die Situation hinein. Ich erinnere mich daran, dass ich zu ihm gehöre und nicht allein bin – auch wenn ich mich gerade so fühle. Zur Not hilft ein Abstecher auf die Toilette, um durch ein kurzes Gebet die richtige Perspektive zu bekommen und ruhiger zu werden. Dasselbe gilt für die schönen Dinge, die ich erlebe. Die Dinge, die gut gelaufen sind. Nicht nur denken „wow, was für ein schöner Sonnenuntergang“ oder „puh, das hat gerade so geklappt“, sondern ein Gebet daraus machen: „Gott, wie genial du das alles geschaffen hast“ und „danke, dass das geklappt hat, danke für deine Hilfe“! Auch solche „Stoßgebete“ helfen, Gott nicht aus den Augen zu verlieren.

Noch ein anderer Gedanke: Wenn man in der Nähe einer Kirche wohnt oder arbeitet, hört man immer wieder die Glocken. Als Kind waren es für mich einfach Zeitansagen („bald gibt’s Mittagessen“, „wenn die Glocken läuten, komm bitte nach Hause“). Inzwischen weiß ich, dass sie ursprünglich zum Beten aufriefen. Vielleicht kann Glockengeläut für uns ein Aufruf zum kurzen Innehalten werden. Die Gedanken auf Gott ausrichten, sich bewusst machen „er ist da und ich gehöre zu ihm“, ihm kurz (aber bewusst!) vor die Füße legen, was einen gerade beschäftigt. 
Durch das Beten lasse ich Gott in meine Situation hinein. Das ändert meinen Alltag und hilft gegen den Tunnelblick.

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