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Mein Sternenkind

Bericht

Die Grausamkeit des Lebens und Leidens ist unberechenbar. Emanuel Kessler verlor ein Kind, das nie geboren wurde. Es war ein Teil von ihm. Und auch wenn er es nicht in sich trug, drangen die Geschehnisse und die Nachricht des Todes doch mit brutaler Macht in seinen Alltag. Ein Bericht, der berührt und nachdenklich macht.

Ich bin allein

09. April 2019 - gerade verlies ich das Taxi, das mich vom Krankenhaus nach Hause brachte. In ein paar Minuten wollen gute Freunde unser Kind bringen. Ich habe keine Lust heimzugehen und entscheide mich daher, in einer Gaststätte in der Nähe zu warten. Ich setze mich an die Theke und bestelle ein Bier. Aus den Lautsprechern erklingt „Nimm unsern Abschied zum Geleit“ und kurz danach „Bist du auch fort, du bleibst uns nah. Die letzte Fahrt!“ von Santiano. Zum ersten Mal bin ich an diesem Tag allein. Ich beginne zu weinen. Der Kellner fragt, was passiert sei. Unter Tränen erzähle ich kurz. Ich bestelle ein zweites Bier. Beide spendiert mir der Kellner. Als unser Kind nach Hause kommt, verlasse ich die Gaststätte und gehe mit dem Kind heim.

Da stimmt was nicht

Dabei hatte es so wunderbar angefangen. Endlich wieder schwanger! Lange hatten wir nach dem ersten Kind darauf gewartet. Wir gingen zum Frauenarzt. Dieser konnte das Baby in dem frühen Stadium noch nicht sehen und ging davon aus, es wäre schon alles gut. Eine Woche später stiegen die Schwangerschaftshormone nicht so an, wie es sein sollte. Der Arzt untersuchte meine Frau erneut. Sein Resümee: Da stimmt was nicht. Einige Tage später sagte der Arzt, die Schwangerschaft müsse beendet werden. Ich fragte: „Ist es möglich, auf Besserung zu hoffen?“ Seine klare Antwort: „nein“. Aus Sicht der Ärzte war das Kind nicht zu retten und meine Frau sollte den notwendigen Eingriff am nächsten Tag machen lassen. Danach fiel aber der Hormonspiegel nicht so ab, wie es bei einer beendeten Schwangerschaft typisch wäre. Kurz darauf wurde eine Eileiterschwangerschaft diagnostiziert und meine Frau hatte wenige Tage später erneut einen Eingriff. Bei der Nachbesprechung wurden wir über die medizinischen Vorgänge informiert und man sagte uns, salopp formuliert, wir hätten einfach Pech gehabt. Nach einigen Nachuntersuchungen war der Fall medizinisch erledigt. Mein Weg ging dann erst richtig los! Während der ganzen Zeit ging ich weiterhin arbeiten, weil ich damals das Gefühl hatte, ich bräuchte das als Ablenkung. Ob das die richtige Entscheidung war?

Ich konnte es nicht ertragen

Kurze Zeit später kamen die Ostertage. Unsicher ging ich zum Karfreitagsgottesdienst. Was würde das mit mir machen? Die Stimmung im Gottesdienst war gedrückt. Es ging um Leiden, um Schmerz und um Tod. Ich fühlte mich verstanden. Am Ostersonntag jedoch ging es um Lebensfreude, um neues Leben und einen Gott, der den Tod besiegt. Das hielt ich nicht aus. Ich verlies den Raum. Ich glaube ja, dass Gott hätte eingreifen können. Aber er tat es nicht! Das verstörte mich. Und so konnte ich die fröhlichen Lobpreislieder nicht ertragen. Den Rest des Gottesdienstes verbrachte ich im Vorraum der Gemeinde.

„Ich konnte immer wieder beobachten, wie leidende Menschen mit Sätzen wie „Wer weiß, wofür es gut ist?“ zusätzlich verletzt wurden.“

Seitdem beschäftigen mich vor allem auch diese Themen:

War das schon Leben?

Oder, anders formuliert: War der Embryo bereits 'eine lebende Seele' (1. Mose 2, 7)? Wenn es eine „lebende Seele“ war, dann ist es auch gestorben. Und wenn es gestorben ist, dann gilt auch für dieses Ungeborene die Hoffnung auf die Auferstehung. Dann ist die Geschichte noch nicht vorbei, sondern sie wird irgendwann und irgendwie weitergehen. Und wenn es kein Leben war, dann ist es nicht gestorben. Dann ist es einfach nicht mehr da, ohne Hoffnung auf ein „irgendwann“. An manchen Tagen gebe ich mir die erste Antwort, an anderen Tagen die zweite. Mit wachsendem zeitlichem Abstand wächst auch die Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Dazu kommt der Zweifel

Mit dem Satz „Sie sagen: Gott möchte immer heilen.“ fasste Arne Kopfermann in einem Interview die Theologie einiger christlichen Gruppen zusammen. Neben der Tatsache, dass die Aussage über Gott schlicht nicht stimmt, birgt sie noch ein zweites Problem: Menschen, die wie wir erlebt haben, dass Gott nicht immer heilt, fragen sich, warum Gott bei ihnen nicht gehandelt hat. Zu der Trauer kommen noch Zweifel – entweder an Gott oder am eigenen Glauben. Ich habe noch nie einen Automatismus zwischen Gebet und erwünschter Wirkung gesehen. Mittlerweile halte ich diese Erwartungshaltung für gefährlich, weil sie das Leiden von Leidenden vergrößert. Solange wir uns über Gott und Gottes Handeln täuschen (lassen), so lange kann Gott uns auch ent-täuschen.

Die Trauerkartenlyrik

Mit einem überschaubaren Personenkreis an Menschen, die an Jesus glauben, sprach ich bisher über meine Geschichte und meine Gedanken. Warum nur mit einigen? Ich möchte mich vor -auch christlichen - Phrasen schützen. Ich konnte immer wieder beobachten, wie leidende Menschen mit Sätzen wie „Wer weiß, wofür es gut ist?“ zusätzlich verletzt wurden. Als Ehepaar nennen wir solche Sätze „Trauerkartenlyrik“, ein Wort, das wir in einer Folge der Fernsehserie „NCIS“ kennenlernten. Von solcher „Trauerkartenlyrik“ fühle ich mich weder ernstgenommen noch getröstet. Mein Wunsch an Menschen, die gern helfen wollen, ist: Sag besser nichts, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst. Manchmal ist es besser, die Stille mit jemandem auszuhalten, als ihn mit oberflächlichen Phrasen abzuspeisen. Dann geht ihr ein Stück des Weges mit – mit den Zweifeln und den Fragen.

Meine Trauer, die ich spüre, ist die über den Tod hinausgehende Liebe für das ungeborene Kind – für das Kind, das ich auf dieser Welt nie in den Händen halten kann, mit dem ich nie lachen und das ich nie begleiten kann. Diese Trauer bleibt bei mir, wahrscheinlich mein Leben lang – und das ist okay! Die Alternative, das Kind zu vergessen, wäre schlimmer.

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