Jetzt oder nie

Leitartikel

Alltag. Grausig? Langweilig? Mühsam? So, als würde er eigentlich nur dazu da sein, um ihm zu entfliehen? Immerhin. Er macht den größten Teil unseres Lebens aus. Die meiste Zeit verbringen wir genau dort. Im Alltag. Also raus aus ihm, ab auf die Piste und rein ins echte Leben? Was irgendwie nach Werbung für Pauschalreisen klingt, ist am Ende nicht mehr als eine schale Fluchtparole und wird ihr Ziel nicht erreichen. Von Detlef Eigenbrodt.

Ich bin ein Typ, der Dinge nicht so gern auf die lange Bank schiebt. Das nervt manche um mich herum ganz schön, die hätten es lieber eine Gangart ruhiger. Langsamer. Beschaulicher. Irgendwie nicht so schnell. Bin ich einfach zu wild und ungeduldig? Will ich zu schnell zu viel? Nein, wenn Sie mich fragen. Ich will einfach die Zeit auskaufen und den Moment nutzen. Ich will nicht auf irgendwann warten, will nicht verschieben, will nicht denken oder glauben, es käme eine Zeit oder Gelegenheit, die besser geeignet wäre. Das Hier und Jetzt ist so unglaublich voll von großartigen Möglichkeiten, die ich nutzen will. Für mich und andere. Verstehen Sie, was ich meine? 

Ach, das kenne ich schon

Nehmen wir die Suppenküche von Mama Nompilo in Südafrika. Es ist Jahre her, dass ich das erste Mal dort war, in Khayelitsha. Das bedeutet „Neue Heimat“. Mehr als eine Million Menschen leben in diesem Township am Rande Kapstadts, zum Teil unter wirklich bedrückenden Umständen. Dort besuchte ich eine Frau nach einem Gottesdienst, in dem ich gepredigt hatte, in ihrem Heim. Bei uns würde man eher baufällige Hütte aus altem Holz, löchrigem Wellblech, Pappe und Stoff sagen. Aber es war ihr Heim. Ihr Zuhause, das sie mir voller Stolz und Dankbarkeit zeigte. Dankbar auch deshalb, weil sie sich wertgeschätzt wusste. Es sind nicht viele Weiße, die sich auf den Weg in diese Gegend machen und dann auch noch ins Haus kommen. Obwohl wir nur 25 Kilometer vom Zentrum der Metropole entfernt sind. Aber die Distanz wird hier nicht in Kilometern gemessen. Als ich mich mit der Dame unterhielt, kam plötzlich ihr Mann dazu, ich weiß nicht woher, auf einmal war er da. Sternhagelvoll. Er lallte, schwankte und verzog sich wieder, so rasch seine wackeligen Beine das zuließen. Der Frau war das peinlich. Sie erzählte mir, dass er ihren Geldbeutel genommen und in einer der Hütten den Lohn der letzten Woche in billigen Alkohol umgesetzt hatte. Dabei schien sie nicht besonders aufgebracht oder wütend zu sein, eher so, als würde sie mir eine Alltäglichkeit mitteilen. Etwas, das sie gut kannte, das sie immer wieder erlebte und das ihr vertraut war. Noch heute brennt mir die Erinnerung an diesen Moment in der Seele und ich möchte etwas tun. Dabei übersehe ich manchmal, dass ich ja längst etwas getan hatte, etwas, das für sie viel wertvoller war als Geld. Ich hatte ihren Wert und ihre Würde bestätigt, allein durch den kleinen unscheinbaren Fakt, dass ich als Gast in ihrem Heim stand.

„Am Anfang stand nur ein Impuls, nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke, den ich auf dem Sofa mit meinem Glas Rotwein auch hätte verdrängen können. Ich bin so froh, dass ich es nicht tat.“

Viel öfter als bei dieser Dame stand ich aber in der Gegenwart von Mama Micky Nompilo. Sie hatte sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen ihrer Umgebung mit der von ihr gegründeten Suppenküche „Yiza Ekhaya“ zu dienen. HIV-positiven Menschen, die zwar Medikamente vom Hospital bekamen, aber diese oft auf nüchternen Magen einnahmen, weil sie nichts zu essen hatten. Kindern, die hungrig zur Schule gingen oder auf der Straße spielten, weil ihre Eltern nicht für sie sorgen konnten. Oder es nicht wollten. Für Mama Nompilo ist das Berufung. Dafür hat sie ihre Rentenversicherung aufgelöst. Mama Nompilo dient Gott, indem sie den Menschen dient. Über die Jahre sind wir in Kontakt geblieben und schreiben uns immer wieder über WhatsApp, geben einander Anteil am persönlichen Ergehen und erkundigen uns nach Menschen, die wir gemeinsam kennen. Als ich sie eines Abends im Frühjahr 2020 anschrieb und fragte, wie es ihr und dem Land in Zeiten der sich gerade rasant ausbreitenden Pandemie ginge, schrieb sie mir, dass sie noch in der Küche säße, um das Essen für den nächsten Tag vorzubereiten. Rund 500 Menschen kämen täglich, es wären so viel mehr geworden als sonst. Ich nutzte den Moment und schrieb umgehend einigen Freunden eine Nachricht mit der Bitte um Unterstützung. Ich wollte meinen Teil tun und helfen und nur wenige Minuten später kamen die ersten Reaktionen zurück. Ich war überwältigt! Wir legten an diesem Abend herzlich zusammen und konnten drei Monate lang 500 Menschen täglich eine Mahlzeit geben. Am Anfang stand nur ein Impuls, nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke, den ich auf dem Sofa mit meinem Glas Rotwein auch hätte verdrängen können. Ich bin so froh, dass ich es nicht tat.

Mir blieb der Bissen im Hals stecken

Früher hatte ich es schon getan. Ich war mit meiner Frau in Hamburg und wir wollten nach dem großartigen und mit den bekannten Superlativen kaum zu beschreibenden Musical „König der Löwen“ noch etwas Essen gehen. Auf dem Weg zum Restaurant auf der Reeperbahn sprach uns eine Frau an, sie hatte einen Hund dabei und ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich ging kalt und abweisend an ihr vorbei. Mein Kopf kam nicht klar. Ich schämte mich zutiefst. Im Restaurant hatte ich ein Steak auf dem Teller, aber mir blieb jeder Bissen im Hals stecken, Es schmeckte mir nicht. Ich betete ständig, dass die Frau noch draußen sein möge, wenn wir fertig wären, ich wollte mich bei ihr entschuldigen und auch ihr etwas zu Essen besorgen. Aber sie war nicht mehr da. Ich hatte meine Chance vertan, hatte den Moment nicht genutzt. Und trage diese Erinnerung nach wie vor als Mahnung in meinem Herzen. Und schäme mich immer noch.

Begegnungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Momentaufnahmen, sicher, nicht umfassend, nicht sauber abgegrenzt und reflektiert. Einfach eben nur kurze „Jetzt und Hiers“, die meinen Alltag ausmachen. Einmal feiere ich ihn, weil ich das Richtige tue, einmal nicht. Und auch das gehört als Wahrheit und Erkenntnis dazu: es sind nicht alle gleich. Momente nicht, und Menschen auch nicht. Ich erwähnte es ja schon. Ich will etwas bewegen, will Dinge nicht auf die lange Bank schieben, will handeln. Und was, wenn es nichts zu Handeln gibt? Wenn die Situation und die Rahmenbedingungen es unmöglich machen, irgendetwas zu tun? Dann gehört auch das zum Alltag dazu. Dann sind auch das Momente, die wir „serviert“ bekommen und denen wir entweder auszuweichen versuchen, oder an denen wir fast zerbrechen. Glauben Sie mir. Ich weiß leider genau, wovon ich spreche. In diesen Tagen liegt ein mir sehr nahestehender Mensch mit tödlicher Gewissheit unheilbar leidend da und wird das Erscheinen dieses Textes nicht mehr erleben. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich kann nichts tun! Außer zu heulen, zu schreien, zu toben und zu verzweifeln. Ich würde mein Augenlicht dafür geben, dass dieses noch so junge Leben nicht ausgehaucht wird. Gott hat mein Angebot abgelehnt. Ich kenne den Schmerz der Verzweiflung und Wut, der Hilflosigkeit, der Machtlosigkeit. Und den der Hoffnungslosigkeit kenne ich leider auch.

„Jetzt oder nie. Ich will nicht warten, bis es vielleicht bessere Lebensumstände gibt, um das zu tun, was getan werden muss.“

 

Was sehen Sie?

Jetzt oder nie. Ich will nicht warten, bis es vielleicht bessere Lebensumstände gibt, um das zu tun, was getan werden muss. Ich kann es auch nicht. Es ist dieser Moment, in dem ich lebe und er erfordert meine Aufmerksamkeit. Meine Hingabe. Leider ist meine Entschlossenheit aber kein Garant dafür, dass mir auch gelingt, was ich will. Wie oft ich schon gescheitert bin, kann ich nicht zählen. Aber ich finde darin auch keine Erklärung oder Rechtfertigung zum Aufgeben, die ich nutzen könnte. Oder sehe ich sie nur nicht? Ist das mein blinder Fleck ? 

Jetzt! Jetzt oder nie! Ich weiß. Das klingt manchmal so schal wie eine trotzig ausgerufene Durchhalteparole. Wie nach Flucht. Zwar Flucht nach vorn, aber trotzdem Flucht. Und der Mensch ist nicht zur Flucht gemacht. Und es klingt eben auch so, als gäbe es ein zu Spät. Ganz nach dem Prinzip: Wenn ich es jetzt nicht tue, dann werde ich nie wieder die Gelegenheit haben, es zu tun. Manche Momente schleichen sich an, präsentieren sich in ihrer ganz besonderen und speziellen Art und wollen genutzt werden. Wenn ich das nicht bemerke, ist es vorbei. Der Augenblick geht vorüber und kehrt nie zurück. Und ich steh am Ende da wie damals auf der Reeperbahn.

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Schauen Sie sich um. Schauen Sie in sich hinein. Was sehen Sie? Jemanden, der Sie braucht? Wünsche und Träume, die Sie sich nicht zugestehen, die Sie sich nicht erlauben und vielleicht schon Ihr Leben lang verkneifen? Manche Menschen machen sich ja so eine Bucket-List. Die Entstehung der Bezeichnung ist ein wenig makaber, aber darauf kommt es nicht an. Auf diese Liste jedenfalls kommen all die Dinge, die man noch tun und erleben möchte, bevor man diese Welt verlassen muss. Im Grunde ist das gar keine schlechte Idee, finde ich. Wenn nicht am Ende die für mich wesentliche Frage offenbliebe. Die nämlich, wann jemand damit beginnt, seine Liste abzuarbeiten. Was soll ich mit einer Liste, die zwar dokumentiert, was ich noch alles tun will, wenn ich nicht beginne, es zu tun? Sicher. Es ist großartig, Träume zu haben und Pläne, sich auf etwas wirklich zu freuen. Das ist schon weitaus mehr, als viele Menschen von sich sagen könnten. Aber verschiebt dieses Denken, dieses Führen einer Liste nicht die Erfüllung des Glücks auf einen späteren Zeitpunkt? Ganz nach dem Motto „Wenn ich erst dies oder das erreicht habe, dann…“? Viele Menschen konditionieren ihr Glück, warten auf dessen Erfüllung und übersehen dabei, wie glücklich sie eigentlich jetzt schon sein könnten. Sie leben in der Erwartung dessen, was sie sich wünschen, in der Zukunft, sozusagen. Aber sie leben nicht im Hier und Jetzt. Ich für meinen Teil will nicht zulassen, dass ich den Moment versäume, der mich braucht. Und ich will nicht nur in der Hoffnung auf Morgen leben, sondern auch in der Realität des Moments.