Wo kämen wir denn da hin?

Essay

Manch einer ruft diesen Satz brüskiert aus, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen läuft und er meint, die gute Ordnung sei in Gefahr. Dass dann, wenn sich etwas verändert, nicht nur etwas verschwindet, sondern auch Neues entsteht, beschreibt Andreas Malessa. Und stellt fest, dass das nicht immer mit Verfall, sondern oft viel mehr mit Wachstum zu tun hat.

So wie der biologische Körper wächst, der Verstand an Aufnahmekapazität und Kombinationsvermögen zunimmt, die genetischen oder erworbenen Begabungen und Talente sich entfalten – so soll auch das Gottvertrauen (und wäre es winzig wie ein „Senfkorn“, Mt. 17,20), so sollen die Verbundenheit mit Jesus und das Inspiriert sein vom Heiligen Geist in Gedanken und Gebeten „wachsen“. Der Glaube soll tiefer, reifer, größer werden durch praktizierte Spiritualität. Der Glaube soll von einem Lippenbekenntnis zu einer Gewissheit, von einer Meinung zu einer Haltung, von einer gesprochenen Überzeugung zu einem gelebten Zeugnis reifen. Nicht nur im Kopf und im Herzen sollen wir „wachsen zur Erkenntnis Gottes“ (Kol. 1,11), sondern ganzheitlich charakterlich soll „Christus in euch Gestalt gewinnen“ (Gal. 4,19), empfiehlt uns Paulus im Neuen Testament.

Das Risiko des Wachstums

Und woran merkt man, dass jemand „im Glauben wächst“? Wird der- oder diejenige immer „sicherer“, „kompromissloser“, „standfester“? Führt geistliches Wachstum automatisch ins Radikale, ins Sektiererhafte? Nein, es führt ins Risiko. Denn: Wie in der natürlichen Botanik, soll auch das geistliche Wachstum „Früchte“ hervorbringen. „Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue“ zum Beispiel (Gal. 5,22). Ob die eines Tages heranreifen, ob es „gute“ oder „faule“ Früchte werden, lässt sich aber im Wachstumsprozess selbst nicht jederzeit erkennen. Das ist das Risiko. Sowohl für den „Wachsenden“ selbst als auch für die Glaubens-„Geschwister“ drum herum. Was mich an eine Situation erinnert, in der ich einmal war:
Schon vor Beginn des Abendgottesdienstes fällt mir auf, dass die Älteren im Saal ihn erstaunt anschauen, einige fast erschrocken. Einen Gast, schätzungsweise 75 plus, etwas gehbehindert, mit Hörgerät, bekleidet mit einem ungebügelten Anzug. Er blickt suchend umher, als sei er zum ersten Mal hier. Nach meinem Vortrag setzt er sich zu mir und erzählt: „Ich bin in dieser Gemeinde aufgewachsen. Als Student verliebte ich mich in eine junge Frau mit Kleinkind, die von ihrem Mann verlassen worden war. Wir schliefen miteinander, ohne verlobt zu sein. Dafür wurden wir beide aus der Gemeinde ausgeschlossen. Wir heirateten nur standesamtlich. Meine Eltern kamen nicht zur Hochzeit. Meine Frau hielt lebenslang Abstand zu ihnen. Wir bekamen gemeinsame Kinder, später auch Enkel, gingen 40 Jahre in keinen Gottesdienst. Dann starb meine Frau, und ich suchte alte Freunde auf, bat um Wiederaufnahme in die Gemeinde. Der junge Pastor blätterte in den Protokollen des Archivs und sagte: ‚Ihren Rauswurf 1963 hat damals Ihr eigener Vater beantragt! Und hat ihn im Gemeindevorstand mit einer Stimme Mehrheit durchgesetzt“‘. Er macht eine Pause. Fast nuschelt er: ‚Ich hatte das nie gewusst. In der Nacht darauf bekam ich einen Herzinfarkt‘.“ 

Manchmal eher Unkrautjäten

Die Geschichte erschüttert mich, aber meine Empörung nützt ja keinem etwas. Also versuche ich, mich in den Vater des tragischen Seniors hineinzuversetzen. Vielleicht war er ja überzeugt, dass geistliches Wachstum mit Unkrautjäten beginnt. Wie im Garten: Nutz- und Zierpflanzen brauchen Licht und Luft, also weg mit dem Kroppzeug. Oder wollte er beweisen, dass er als Vorstandsbruder nicht etwa „ein Auge zudrückt“, wenn die eigenen Kinder Konflikte verursachen? Ist es nicht tatsächlich ein „Zeichen von Reife“, wenn jemand nicht korrumpierbar ist, sondern Prinzipien hat? Vielleicht wollte er einfach nur „den Laden sauber halten“. Aber wer dankte und lohnte ihm das? Seine Familie jedenfalls nicht. Der Wunsch eines frommen Vaters, ein „gradlinig“ wachsender Baum in Gottes Garten zu sein, trieb seinen Sohn aus der Gemeinde und verursachte ein jahrzehntelanges Familienzerwürfnis. Brachte eine lebenslang glaubensferne Schwiegertochter hervor, stramm antikirchlich erzogene Kinder und Enkel und zum Schluss einen gebrochenen alten Witwer.

„Der Glaube soll von einem Lippenbekenntnis zu einer Gewissheit, von einer Meinung zu einer Haltung, von einer gesprochenen Überzeugung zu einem gelebten Zeugnis reifen.“

Hier tut sich was

Zwei prominente Figuren der biblischen Kirchengeschichte sind durch ihren geistlichen Wachstums- und Reifungsprozess nicht etwa „standfester“ und „sicherer“ geworden, sondern ins volle Risiko gegangen. Zum einen Petrus. Er kennt die Reinheits- und Speisevorschriften des mosaischen Gesetzes auswendig (3. Mo. 11,13 – 23) und weil er ein „bibeltreuer“ Jude ist, lehnt er angewidert ab, als er in einem Traum hört, er solle genau diese unreinen Tiere essen. (Apg. 10,10 – 6). Kurz darauf eskortieren ihn römische Soldaten zu einem Empfang ins Haus des heidnischen Hauptmanns Kornelius. Dort irritiert der fromme Fischer die Militärs und Beamten von Caesarea mit einem peinlichen Affront: „Danke für die Einladung, aber eigentlich seid ihr alle unrein.“ (Apg. 10,28a). Doch er erzählt auch von seinem Traum. Und Kornelius von seinem. Und weil die übereinstimmen, weiß Petrus: Es ist der Heilige Geist und nicht der Zeitgeist, der ihn gerade über eiserne Traditionen hinauswachsen lässt (Apg. 10,34 – 36). Dass Gott der Souverän auch über sein eigenes Gesetz ist; dass Gott im Einzelfall auch jene Gebote aufheben darf, die er einst selbst inspiriert hat – darauf zu vertrauen, erfordert Reife und enthält ein Risiko. Petrus wird massiv kritisiert, ein unaufgebbares Zugehörigkeitsmerkmal – die Beschneidung nämlich – zum Fenster rausgeworfen zu haben. Eine liberale Lusche, dieser Heidenfreund (Apg. 11,1).

Und dann der aus jesusgläubigem Hause stammende Johannes Markus (Apg. 12,12). Er darf als Praktikant mit Paulus und Barnabas auf die erste Missionsreise gehen (Apg. 12,24b), wird in Antiochien eingesegnet und ausgesandt (Apg. 13,5), trennt sich aber in Perge von seinen Dienstgebern und zieht wieder bei Mama ein (Apg. 13,13). So ein unzuverlässiges Weichei will Paulus nicht noch einmal mitnehmen (Apg. 15,38), was zu einem – je nach Bibelübersetzung – „bitteren Zwist“, einem „heftigen Streit“, einem „scharfen Aneinandergeraten“ (Apg. 15,39a) mit Onkel Barnabas führt (Kol. 4,10) und zur ersten Spaltung eines Missionswerks (Apg. 15,39,+ 40). Wer von den beiden Aposteln Recht hat – der erfahrungsgestützte Paulus oder der personenbezogene Barnabas – scheint dem Heiligen Geist egal zu sein: Er segnet die künftigen Missionstouren von beiden.

Johannes Markus muss sich wohl bewährt, oder Paulus sich von seinem Urteil abgekehrt haben, jedenfalls bittet der einstige Neinsager ausdrücklich um die Mitarbeit des einstigen Weicheis: „Bring Markus mit, denn er ist mir nützlich zum Dienst“ (2. Tim. 4,11). Paulus bekennt öffentlich, dass sich Überzeugungen ändern können und dürfen, indem er dem (jüngeren) Timotheus gegenüber eine Fehleinschätzung eingesteht, die damals nun mal vernünftig oder geboten erschien. Und weil er dem (ebenfalls jüngeren) Johannes Markus gegenüber zugesteht, dass auch er diesbezüglich gereift ist.

Tiefe Wurzeln, weite Äste

Lässt „geistliches Wachstum“ in unseren Herzen und Köpfen – aber auch in Gemeinden – lauter Hecken und Grenzbüsche wachsen? „Bis hierher und nicht weiter! Wo kämen wir denn da hin, wenn …“? Oder wachsen unser Gottvertrauen, unsere Verbundenheit mit Jesus und unser Inspiriert sein vom Heiligen Geist zu einer afrikanischen Schirm-Akazie? Die ist tief und fest verwurzelt und gerade deshalb – nicht trotzdem – kann sie ihre Äste weit und breit hinauslehnen, kann hohe Freiräume schaffen und auch jenen „Tieren“ Schatten spenden, die den aufrechten Gang üben? 

Im Theologiestudium war Kirchengeschichte mein Lieblingsfach. Nach wie vor finde ich es richtig und wichtig, die „Väter und Mütter“ unseres Glaubens zu würdigen, von ihnen zu lernen, ihre Lieder und Gebete, ihre „praxis pietatis“, also ihre Frömmigkeit, kennen zu lernen. Waren die „reifer“ im Glauben als wir heute? Weiser, frömmer, „geistlich weiter im Wachstum“?  Nein, sie waren Kinder ihrer Zeit. Was sonst. Christen nämlich, die zeit-, mentalitäts- und erkenntnisbedingte Urteile fällten. Unsere Erkenntnis aber ist und bleibt bekanntlich „Stückwerk“ (1. Kor. 13,9) und geschieht immer vorbehaltlich. Vorbehaltlich des Urteils und der Gnade Gottes. Das ist das Risiko für die Gegenwart. Soviel demütige Selbstbescheidung ist anstrengend. Sie steht obendrein im Verdacht, die abschüssige Gefällstrecke in bindungs-, ordnungs- und verantwortungslose Beliebigkeit zu öffnen. Wir sind doch schließlich „die Gemeinde des lebendigen Gottes, ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim. 3,15), Menschenskind! Überraschenderweise zitiert Paulus im nächsten Atemzug einen Hymnus, der mit „Er“ anfängt: „Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist …“ (1. Tim. 3,16), das heißt: Der lebendige Gott ist Mensch geworden. Und sagte nicht: „Ich bin der Standpunkt, Ihr habt die Wahrheit und sonst ist kein Leben“, sondern sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6). Heilsexklusiv, ja. Aber eben dynamisch und lebendig, das heißt, die Gemeinde „folgt ihm nach“, sie geht und wächst und reift und verändert sich. Von A nach B, vom Gestern über das Heute ins Morgen. 

Dieses Risiko verlangte schon Mose dem wandernden Volk in der Wüste ab und später Jesus seinen Jüngern, Petrus und Paulus den ersten Christengemeinden. Es ist und bleibt das Risiko geistlichen Wachstums. Wo kämen wir denn da hin …

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