Die Töchter Ruandas
Portrait
Von Astrid Lindgren ist der Satz überliefert: „Man wird stark, wenn man es muss.“ Claudine aus Ruanda kennt diesen Ausspruch nicht. Würde sie ihn aber kennen, würde sie ihn vermutlich bestätigen. Und mit eigenen Einsichten ergänzen. Von Sicherheit würde sie dabei wohl kaum sprechen. Ein Portrait von Carmen Schöngraf.
Die 49-Jährige lebt unweit der Hauptstadt Kigali. Sie hat den ruandischen Völkermord von 1994 überlebt. Weil der Stamm der Hutu die Volksgruppe der Tutsi auslöschen wollte, kam es zu einem der schrecklichsten Massaker in der jüngeren Geschichte. In nur 100 Tagen verlor über eine Million Menschen ihr Leben. Die Täter der Hutu schreckten vor nichts zurück. Sie ermordeten und folterten Tutsi sowie gemäßigte Hutu. Über 250.000 Frauen wurden vergewaltigt und systematisch mit HIV/Aids infiziert. Claudine ist eine von ihnen. Mit 24 Jahren musste sie mit ansehen, wie ihre Eltern, Geschwister und Verwandten getötet wurden. Sie selbst wurde mehrfach von mehreren Männern vergewaltigt. Sie hat als Einzige ihrer Familie überlebt. Traumatisiert, mit HIV infiziert und schwanger blieb sie allein zurück. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Claudine lebte nur von Tag zu Tag.
Mit Unterstützung, Zähigkeit und Durchhaltevermögen hat sie sich zurück ins Leben gekämpft. Sie hat es geschafft, ihre Tochter großzuziehen und sich wieder einen Alltag aufzubauen. Durch die christliche Entwicklungshilfeorganisation ora Kinderhilfe international e. V. wurde sie in eine Selbsthilfegruppe von Frauen integriert, die an einem ähnlichen Schicksal tragen. Sie alle haben schreckliche Gräueltaten erlitten. In ihrem Leid stützen sie sich gegenseitig; sie weinen zusammen, essen zusammen und beten zusammen. Claudine wurde durch ora Kinderhilfe auch materiell geholfen. Ihre Tochter war ein ora-Patenkind, wodurch Mutter und Tochter mit genügend Nahrung, Kleidung und Medikamenten versorgt wurden. Seit die Tochter erwachsen ist, wird Claudine mit Saatgut und Düngemitteln für ihr Feld unterstützt. Ihre AIDS-Medikamente zahlt inzwischen der ruandische Staat.
Claudine ist gezeichnet und geschlagen
Man wird stark, wenn man es muss. Das fühlt sich nicht automatisch gut an. Claudine ist gezeichnet von dem, was ihr widerfahren ist. Sie versucht, mit den Erträgen ihres kleinen Ackers ihr Auskommen zu bestreiten und sich nicht von ihren Sorgen überrollen zu lassen. Nicht immer ist das möglich. Claudine lebt in Armut und Krankheit. Sie leidet unter posttraumatischen Belastungsstören wie Kopfschmerzen, Angstattacken und Herzrasen. Weil ihr Immunsystem durch den HI-Virus geschwächt ist, ist sie oft krank.
Claudine hat mühevoll gelernt zu lieben
Man wird stark, wenn man es muss. Damit wird nicht automatisch alles gut. Zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Hass und Liebe, zwischen Verzweiflung und Hoffnung pendelt Claudine seit 25 Jahren hin und her. Die Mutter hat mühevoll gelernt, ihre Tochter zu lieben: „Sie ist die einzige Familie, die ich habe, und ich habe mich entschlossen, sie zu lieben.“ Kurz nach der Geburt war es Claudine kaum möglich, das Baby überhaupt anzusehen. Zu sehr erinnerte das Kind sie an die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Die heute 25-jährige Sarah fühlt, dass ihre Mutter ihr mit einer Kopfliebe zugeneigt ist. Ihrer Beziehung fehlt das Herzliche und Innige. Das Mutter-Tochter-Verhältnis ist angespannt.
Claudine ist stark und gibt nicht auf
Man wird stark, wenn man es muss. Das löst nicht unbedingt die Probleme, aber es hilft, mit ihnen umzugehen. Claudine ist eine gläubige Frau. In ihren dunklen Stunden rettet sie sich zu Gott und zu den Frauen in ihrer Selbsthilfe-Gruppe. Sie lässt für sich beten, damit sie wieder Hoffnung schöpfen kann. Sie geht regelmäßig zum Arzt und kümmert sich um ihre Gesundheit. Sie versucht, von ihren eigenen Sorgen weg- und zu ihrer Tochter hinzusehen. Sie wünscht Sarah nur das Beste und versucht, ihr eine gute Mutter zu sein. Claudine ist stark, weil sie immer wieder akzeptiert, was möglich und was unmöglich ist. Claudine ist stark, weil sie die Gegensätze aushält. Claudine ist stark, weil sie muss und weil sie nicht gewillt ist, aufzugeben: „Dann hätten die Täter, die mich auslöschen wollten, gewonnen.“
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