Leben auf der Überholspur: Keine Zeit für Beziehungen?
Essay
Wer träumt nicht davon, eigene Ziele zu erreichen, Verantwortung zu übernehmen, es zu etwas zu bringen, sein ganzes Potential auszuschöpfen und die Welt ein großes Stück besser zu machen? Was, wenn dabei dann die Zeit für Freundschaft fehlt, für Partnerschaft und für sich selbst? Manuel Hein schreibt über ein eventuell auswegloses Dilemma.
Mein Leben nahm bislang, in aller Bescheidenheit, einen sehr erfreulichen Verlauf. Abitur und Studium mit Bestnoten, zuletzt an einer Spitzenuniversität in den USA. Anschließend machte ich mich als Unternehmer selbstständig. Daran hätte ich vor ein paar Jahren im Traum nicht gedacht – was für eine Chance! Ich bin sehr dankbar. Wie immer, wenn ich einmal Feuer gefangen habe, will ich alles geben und das Beste rausholen.
„Selbst und ständig“, zwinkern mir manche zu. Es stimmt. Die spießige 35-Stunden-Arbeitswoche kenne ich nur vom Hörensagen. 60 Stunden sind für mich so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Zur unternehmerischen Mission kommen dann natürlich noch Ehrenämter, aktives Netzwerken in der Gründerszene, manche freundschaftliche Schützenhilfe, Sport zum Ausgleich und unregelmäßige Gottesdienstbesuche hinzu. Nicht selten nimmt mich das Leben von vorne bis hinten ein. Ja, ich bin gerne aktiv. Einige Freunde ermahnen mich mit beachtlicher Regelmäßigkeit: Schalte mal einen Gang runter. Du machst einfach viel zu viel, heißt es immer wieder. Wir möchten uns bitte öfter sehen als nur einmal im Quartal. Wir möchten unsere Treffen und Telefonate nicht so lange vorausplanen müssen. Nimm dich zurück, die Welt dreht sich auch ohne dich. So einfach, so wahr.
Und gleichwohl, ich stehe in bestimmten Verantwortungsbereichen, die ich nicht nur voller Pflichtbewusstsein, sondern sogar sehr gerne ausfülle. Zum Beispiel denke ich an meine Verantwortung gegenüber meinem Team, meinen Investoren, meinen Kunden. Mich mal eben davon zu trennen, funktioniert nicht – und selbst wenn ich es könnte, möchte ich das ja gar nicht. Und dann, ganz nebenbei, ruft sich auch mein Elternhaus noch in Erinnerung: wann denn in etwa mit Enkelkindern zu rechnen sei, schließlich wollten sie das noch bei passabler körperlicher Verfassung erleben. Gute Frage, dazu fehlt ja noch die Frau an meiner Seite. Karriere und Familie – wann kann ich die endlich unter einen Hut bringen?
Drei Mal ich
Gute gemeinte Ratschläge lassen in aller Regel nicht lange auf sich warten. Einer rät mir: fokussiere dein Beziehungsnetzwerk auf die, die dich voranbringen. Ein zweiter fügt hinzu: du darfst nur sehr wenige, sehr enge Beziehungen aufrechterhalten, es kommt auf Tiefe an! Der dritte impft mir ein: allem voran muss Gott die erste Stelle in deinem Leben einnehmen. Werfe ich also einen genaueren Blick auf diese drei Ratschläge.
Am Gründonnerstag sitze ich mit meinem Sandkastenfreund im Café. Wir haben uns ein viertel Jahr lang nicht gesehen. Endlich kreuzen sich unsere Wege wieder. Wer uns ansieht, erkennt schnell, wir könnten unterschiedlicher nicht sein. Gerade in der jetzigen Phase, wo doch die geschäftlichen Kontakte die nötigsten wären: warum um alles in der Welt verbringen wir Zeit miteinander? Ja, wir leben in verschiedenen Welten. Wir sind auch charakterlich sehr unterschiedlich, jeder ist auf seine Weise eigenartig-einzigartig. Aber das ist für uns okay. Wir konnten einander schon immer so annehmen und füreinander da sein, wie wir sind. Gott sei Dank. Es tut gut, Freunde zu sein. Darauf stoßen wir an. Ja, ich brauche ehrliche, authentische Freundschaften, die gar keinen vordergründigen Nutzen bringen, Freunde, die mich persönlich kennen und annehmen. Auch dann, wenn ich mal nicht „performe“ oder ein komischer Kauz bin. Mich auf die nutzenstiftenden Kontakte zu reduzieren, greift für mich im Lichte meiner Freundschaften deutlich zu kurz.
Zweitens. Im letzten Sommer bewirbt sich ein junger Mann für ein Praktikum. Eine Initiativbewerbung, die Stelle war gar nicht ausgeschrieben. Er ist motiviert wie kein zweiter, das merke ich schnell. Mit seinen 21 Jahren freilich noch naiv und unerfahren, aber er hat Power. Er wächst mir ans Herz. Ich möchte, dass er es zu etwas bringt, dass ich ihn dabei prägen und auf die richtige Spur setzen kann. Ich bin dankbar, dass ich ihn ein Stück seines Weges begleiten darf. Wir ringen oft um die besten Ideen für seine zukünftigen Geschäftsmodelle. Eine Investition, die weit über meine Verantwortung hinausgeht. Doch sie zahlt sich aus: am Ende seines Praktikums ist er in vielen Bereichen über sich hinausgewachsen. Und dennoch, immer noch bleibt vieles auf der Strecke. Trotzdem war es wichtig und richtig, hier Zeit zu investieren – auch wenn das nicht in persönliche Tiefe führte.
Und dann: Gott an die erste Stelle setzen, das ist schon ein echter Hammer. Schrieb ich nicht vorhin erst von unregelmäßigen Gottesdienstbesuchen? Dabei bleibt es freilich nicht: Unregelmäßigkeiten lassen sich schnell auch bei Bibelstudium und Gebet feststellen. Wie viel Zeit muss und will ich dafür aufwenden? Lässt sich das überhaupt bemessen? Soll nicht vielmehr mein Lebenswandel als solcher ein einziger Gottesdienst sein? Unter dieser Perspektive bin ich dankbar, dass sich mein Verantwortungsbereich und meine Begabungen großflächig überdecken. Im Unternehmertum sehe ich eine Berufung. Immer wieder gibt es Phasen, in denen Gott im Schatten steht. Dann erinnere ich mich: dankbar in meiner Berufung leben und dienen, das muss fürs Erste genügen. Der Herr kennt mein Herz.
Was zählt wirklich?
Mir werfen sich mehr Fragen auf, als ich Antworten habe. Gut gemeinte Ratschläge entziehen sich schnell der praktischen Relevanz. Vieles verbleibt im Ermessen. Wie weiter? Gehe ich also nochmal einen Schritt zurück. Warum ist das mit der Zeit
für Beziehungen denn eigentlich so wichtig? Ist es nicht völlig egal, wie ich meine Zeit verbringe? Wer hat überhaupt ein Anrecht, von meiner wertvollen Zeit etwas abzubekommen? Ich denke, die Antworten auf diese Fragen liegen in der Suche danach, was meinem Leben langfristig Halt und Perspektive gibt. Die Sinnsuche findet Antwort in gesunden Beziehungen, die uns zum Segen werden, die uns unser Leben dankbar genießen lassen. Sich kennen. Vertrauen. Verbinden. Ich kenne dich. Ich vertraue dir. Ich stehe für dich ein. Das ist doch die Krönung jeder Freundschaft, jeder Geschäftsbeziehung, jedes Glaubens, jeder Partnerschaft, jedes Umgangs mit sich selbst. Und genau an dieser Stelle beginnt es, das Dilemma mit der Zeit! Um einander gut zu kennen und zu vertrauen, benötigen wir gemeinsame Erlebnisse, Gespräche, Austausch – gemeinsame Zeit. Und die Zeit fehlt ja gerade! Jetzt liegt es auf der Hand zu sagen: dann wollen wir uns eben schneller kennenlernen! Das bringt mit sich, wir müssen ad hoc einen gewaltigen Vertrauensvorschuss leisten – und erwarten, dass sich unser Gegenüber adäquat verhält: integer, sich selbst und meine Grenzen achtend. Schnell laufen wir dann Gefahr, einander zu enttäuschen. Gleichwohl weiß ich, ich kann niemanden voll und ganz verstehen und begreifen – ja, noch nicht einmal mich selbst. Daher wäre es auch nicht zielführend, jedermann erst stundenlangen Gesprächen und Beobachtungen zu unterziehen, bevor ich Schritte auf ihn oder sie zugehen kann. Vertrauensvorschuss muss sein! Hier gilt es, die richtige Balance zu finden. Aus meinem Glauben heraus möchte ich den immerwährenden Dreiklang aus Vertrauen, Verletzlichkeit und Vergebung begreifen und gestalten. Ja, ich möchte zügig Vertrauen schenken. Ja, ich mache mich dann oft angreifbar und verletzlich. Ja, ich möchte ehrlichen Herzens vergeben, wenn ich einmal enttäuscht werde. Diese Haltung möchte ich Tag für Tag leben. Unabhängig von meiner verfügbaren Zeit.
Zeit aufzutanken
Das Beste kommt natürlich zum Schluss. Viel Verantwortung, viel Arbeit, wenig Zeit: das stimmt alles. Aber wenn ich wirklich ehrlich bin, manchmal verspüre ich auch keine rechte Lust auf andere. Ich werde beziehungsfaul. Ich spüre, wie meine Batterien auf Sparmodus schalten. Dann wird es Zeit aufzutanken. Wenn keine Zeit zur Ausrede wird für keine Lust, keine Kraft, keine Energie für meinen Nächsten. Dann wird es Zeit für eine Pause.
Gesagt, getan. Am zweiten Osterwochenende rückte ich in ein Kloster ein. Eine Woche in der Stille sollte mir helfen, mich neu auszurichten, Kräfte zu sammeln. Bei meiner Ankunft im Kloster Marienberg in Südtirol empfing mich Gastpater Pius sehr freundlich. Wir kamen sehr schnell über Persönliches und den Glauben ins Gespräch. Der Pater wunderte sich inzwischen nicht mehr darüber, er hatte es schon oft so erlebt, dass gleich mit Tiefgang gesprochen wurde. Vertrauensvorschuss von Bruder zu Bruder.
Dieses gute Beispiel, nehme ich mir vor, immer mehr anzuwenden: wo es nur möglich ist, die Zeit in meinen Gesprächen wirklich gut zu nutzen. Das heißt, präsent zu sein, mich ganz auf mein Gegenüber einzulassen, zuzuhören, das Smartphone in der Tasche zu lassen, und, vor allem, gute Fragen zu stellen. Die Zeit ist zu kurz für schlechte Fragen, wenn wir einander persönlich liebevoll begegnen wollen. Der Pater bat mich auch gleich an diesem ersten Abend, das Kloster mit in mein Gebet einzuschließen. „Auch hier menschelt es,“ sagte er. „Jeder von uns hat seine Fehler. Wir schieben sie aber nicht beiseite, sondern wir stellen uns ihnen. Das bin ich, das gehört zu mir. Und dann arbeite ich daran, mit seiner Hilfe.“
Die Ruhezeit dort bedeutete mir sehr viel. Ich wollte entspannen und durchatmen. Um dann mit neuer Energie in meine Freundschaften, Geschäftskontakte und sonstigen Beziehungen zurückzukehren und frisch durchzustarten: Danke zu sagen, einen Konflikt zu klären, miteinander zu genießen. Ich habe mir viel vorgenommen. Jesus lädt mich dabei ständig liebevoll ein, wieder von vorne zu beginnen, wo es mir noch nicht gelingt.
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