Integration: Eine bunte Mischung vorprogrammiert

Ratgeber

Was passiert, wenn sich das Verhalten von Menschen nicht planen lässt? Wenn sie plötzlich reden, singen oder lachen, wenn andere still sind? Vielleicht sogar stören? Schafft man da am nicht am besten Räume nebeneinander, in denen sich die jeweils zugehörige Gruppe sicher und wohlfühlt? Eine klare Position dazu bezieht Sabine Langenbach, Mutter einer Tochter mit Behinderung.

„Darf ich Ihrer Tochter die Hand geben und sie begrüßen?“ Eine ungewöhnliche Frage, die uns am Sonntag nach dem Gottesdienst gestellt wurde. Die ältere Dame hatte offensichtlich all ihren Mut zusammengenommen. Mein Mann und ich schauten uns verwundert an. „Ja“, sagte ich, „natürlich. Warum nicht?“ Daraufhin hielt die Gottesdienstbesucherin unserer Tochter die Hand hin. Birte spürte die Bewegung und ergriff die Hand. Die Dame sprach so leise zu ihr, dass ich nur Bruchstücke verstand: „… habe dich die ganze Zeit beim Gottesdienst beobachtet … war bewegt davon, wie du mitgegangen bist … hat mir gutgetan!“ Dann sagte sie an uns gewandt: „Gott hat mir das aufs Herz gelegt, dass ich das Ihrer Tochter sagen soll!“ Wir bedankten uns und die Frau ging weiter. 

Ein wichtiges Detail fehlt

Birte konnte das in diesem Moment gar nicht richtig einordnen. Das sahen wir an ihrem hübschen Gesicht, das ihre Emotionen sehr gut widerspiegelt. Auch wenn ein wichtiges „Detail“ bei ihr fehlt: Birte kam vor 20 Jahren ohne Augen auf die Welt. Im Laufe der Jahre zeigte sich, dass sie noch weitere Handicaps hat. Ihre Lebensfreude beeinträchtigt das aber nicht! Sie lacht viel, ist neugierig, lernt auch jetzt immer noch dazu, und sie liebt Gott und Musik! Dass die sonntäglichen Gottesdienste zu ihren Highlights der Woche gehören, versteht sich da von selbst. Aber gerade diese Zeit empfand ich als Mutter zweitweise als große Herausforderung. 

Nur ein Beispiel: Während der Predigt stellte der Pastor einmal die rhetorische Frage: „Willst du Jesus mehr Platz in deinem Leben geben?“ Neben mir hörte ich ein lautes „JA!“ von unserer Birte, was ein Raunen und Lachen in der Gemeinde zur Folge hatte. Sofort hatte ich Sorge, dass sich jemand dadurch gestört gefühlt haben könnte oder es den Pastor aus dem Konzept gebracht hätte. Ich habe mir damals mächtig Stress  gemacht! Vermutlich hat es mich mehr gestört als die Gottesdienstbesucher um mich herum. Lag es an meiner Prägung? Oder daran, dass ich nicht wollte, dass wir irgendwie auffallen? Ich weiß es nicht mehr.

Diese Zeiten sind vorbei

Wie dankbar bin ich heute, dass diese Zeiten vorbei sind! Mittlerweile bin ich sonntagsmorgens ganz entspannt im Gottesdienst. Das liegt an den positiven Erfahrungen, die wir vor ein paar Jahren in einer Gemeinde gemacht haben. Dort erlebten wir als Familie, und besonders Birte, ganz viel Wertschätzung. Sowohl von den Gottesdienstbesuchern als auch vom Pastor. Ich erinnere mich, dass er einmal nach dem Gottesdienst zu Birte kam und ganz ausdrücklich zu ihr sagte, dass er ihre kurzen Kommentare (siehe oben) während der Predigt sehr schätzt und dass sie bitte nicht damit aufhören sollte! 

Das hat damals nicht nur Birte gutgetan, sondern auch mir eine ganz neue Freiheit und Sichtweise gegeben. Jetzt konnte ich denken: Ist es nicht herrlich, dass sie so intensiv bei der Predigt zuhört und sich angesprochen fühlt? Diese Erkenntnis hat mich tief geprägt. Seitdem ich lockerer geworden bin, hören wir immer wieder, dass andere Gottesdienstbesucher sich daran freuen, wie Birte den Gottesdienst im wahrsten Sinne des Wortes erlebt! Ich nehme wahr, dass unsere Tochter ganz andere „Antennen“ hat, Stimmungen und Inhalte aufzunehmen. Sie geht zum Beispiel mit einer großen Freude zum Abendmahl. Trotz ihrer Gehbehinderung lässt sie es sich nicht nehmen, nach vorne zum Abendmahlstisch zu gehen. Wenn wir dann dort alle zusammenstehen und Brot und Saft gereicht bekommen, spüre ich, wie ein Ruck durch sie hindurchgeht und sie ganz bei der Sache ist. 

Ich kann so manches von meiner Tochter lernen, weil sie die Dinge anders wahrnimmt, besondere Sensoren hat. Deshalb ist sie – wie jeder Mensch, ob mit oder ohne Handicap – eine Bereicherung für die Welt und natürlich auch die christliche Gemeinde. Manchmal frage ich mich aber doch, wo all die anderen Menschen mit Behinderungen in den Gottesdiensten sind. Was kann getan werden, dass auch hier mehr Integration im besten Sinne stattfinden kann? 

Gute Voraussetzungen

Eine pauschale Antwort habe ich nicht, glaube aber, dass das Bedenken folgender Punkte gute Voraussetzungen schaffen können: 

Einen Blick für Menschen mit Behinderung zu bekommen!  Warum nicht als Gemeinde die Bewohner eines Wohnheims oder die Mitarbeiter einer Behinderten-Werkstatt zu einem besonderen Gottesdienst, Konzert oder einem Sommerfest einladen? Auch wenn ein paar Kilometer zu überwinden sind, dürfte das kein Problem sein, denn die Einrichtungen haben Busse. Und ganz klar: über Abwechslung im Alltag freuen  sich die Behinderten auf jeden Fall.

Genauso wichtig ist es, keine Berührungsängste zu haben und trotzdem die Persönlichkeitssphäre jedes Einzelnen zu wahren. Im Klartext: Nicht jeder, der im Rollstuhl sitzt, muss wie ein Kind behandelt werden. Ein respektvolles „Sie“ sollte immer die erste Wahl sein. Hilfe muss angeboten werden. Nicht einfach machen, ohne vorher zu fragen.

Die Barrierefreiheit der Räume ist in dem Zusammenhang ein wichtiger Punkt. Als „Wahl-Sauerländerin“ kenne ich in unserer Region leider viele Gemeindehäuser und Kirchen, die für Gehbehinderte und Rolli-Fahrer unerreichbar sind! Eine kleine Freie evangelische Gemeinde hat deswegen vor ein paar Jahren einen Treppenlift an der steilen Außentreppe installieren lassen. 

Vielleicht gibt es auch Möglichkeiten, in KiTas oder Schulen Kontakte zu Eltern mit behinderten Kindern aufzunehmen und sie zu Gemeindeveranstaltungen einzuladen. Ideal wäre es, wenn dann eine besondere Betreuung für diese Kids angeboten werden würde, damit die Eltern eine kleine Auszeit haben können. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wertvoll so etwas ist! Und keine Angst: Es muss keine Heilerziehungspflegerin oder Kinderkrankenschwester dafür zur Verfügung stehen. Es reicht, wenn man vorher mit den Eltern die Bedürfnisse und Eigenheiten abklärt und ausreichend Mitarbeiter zur Verfügung stehen, damit eine individuelle Betreuung möglich ist. 

Ein Ort, zu dem jeder so kommen kann, wie er ist, mit allen Stärken und Gaben, aber auch mit allen Fehlern und Einschränkungen: Das soll christliche Gemeinde sein. Eine bunte Mischung ist da vorprogrammiert. Dass das nicht immer einfach ist im Alltagsgeschäft, ist klar. Aber es lohnt sich. Denn Gott hat uns doch in solch einer Vielfalt gemacht und wir können voneinander profitieren! 

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