Bin ich ohne sie auch ich?

Leitartikel

Anhalten, hinsetzen, nachdenken. Was machte ich nur, wenn ich es nicht oder nicht mehr hätte, das Netz aus Beziehungen, die mein Leben ausmachen? Wer bin ich ohne sie? Was, wenn all die Güter, Landschaften und Ideale, zu denen ich ebenfalls in enger Beziehung lebe, wegfielen? Wäre ich dann noch ich? Gedanklich unterwegs mit Detlef Eigenbrodt.

Mit zittriger Hand geschrieben, an manchen Stellen schwer bis kaum lesbar, voll von Güte, Liebe und Zuneigung. Die Karte zum Geburtstag, die ich gerade gelesen habe, beschenkt mich reich. Nicht etwa, weil ihr ein Geldschein beigelegen hätte, wie das zu Geburtstagen ja manchmal so mal der Fall ist. Nein, reich, weil ich weiß, wer sie geschrieben hat und mit welcher Haltung. In den lieben Worten und guten Wünschen stecken jahrzehntelanges sich kennen, schätzen und aufrichtiges füreinander da sein. Ich weiß mich eingebunden in eine Beziehung zum Absender der Glückwünsche. Eine Beziehung, die allen Unwägbarkeiten getrotzt und sich zu einem sehr kostbaren Gut entwickelt hat. Ja, das macht mich in der Tat reich.

Die hatten was zum Schmunzeln

Beim Nachdenken über diese Karte schenke ich mir einen Tee ein, lehne mich zurück und gehe gedanklich auf die Reise. Wer ist da eigentlich noch alles um mich herum, wer teilt den Alltag mit mir, das Leben im Kleinen und Großen, Erfolge, Niederlagen, Hoffnungen und Träume? Da ist meine Frau, treu an meiner Seite schon seit 22 Jahren. Ich weiß noch genau, wie unsere Beziehung begann, damals tatsächlich noch mit langen handgeschriebenen Briefen. Sicher, wir wussten da noch nicht, was wir heute wissen. Wir haben einander wehgetan und einander enttäuscht. Sind vermutlich weit davon entfernt, ein Vorzeigeehepaar zu sein. Abgesehen davon aber haben wir wunderbare Zeiten geteilt und werden das auch weiterhin tun. Wir haben viel gelernt, aneinander, durch einander und miteinander. Wir haben Grenzen entdeckt und Freiräume. Wir wissen, wie der andere tickt – was uns zugegebener Maßen nicht immer nur zum Schmunzeln führt. Wir stehen zusammen, gehen zusammen, hoffen zusammen. Und wir haben vier Kinder. Der Jüngste ist fast erwachsen. Ganz ehrlich, das sind vier atemberaubende Beziehungen, die ich nicht missen möchte. Manchmal verwegen, manchmal aufreibend, manchmal an Grenzen führend. Aber immer so unglaublich echt, aufrecht und zugewandt. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie das ist, mit Ihrer Teenager-Tochter im Drogeriemarkt zu stehen und sie ruft fröhlich durch die Regalreihen: „Papa, ich brauche auch noch Tampons. Bringst du die mir mal eben –  die, die ich immer nehme?“ Als wüsste ich, welche Tampons sie nimmt. Na, die Damen um mich herum hatten was zum Schmunzeln, und ich habe auch diesen Einkaufsbummel fröhlich überlebt.

„Ach, Papa, wenn du heute den blauen Pullover anziehen wolltest, vergiss es, den hab´ ich an…!“

Meine Söhne überraschen mich immer wieder, wenn ich auf irgendwelchen Fotos von ihnen T-Shirts, Pullover oder Hosen entdecke, die eigentlich mir gehören. Da kommt es wohl gelegen, wenn man nicht nur die gleiche Größe, sondern auch den gleichen Geschmack hat. Ich bin tatsächlich morgens schon von einer WhatsApp geweckt worden, die mir mein Großer schrieb: „Ach, Papa, wenn du heute den blauen Pullover anziehen wolltest, vergiss es, den hab´ ich an…!“ 

Wir haben da so unsere Grenzen

Ehrlich. Uns geht’s gut miteinander. Aber glauben Sie bitte nicht, dass hier bei uns überall rosa Wolken und bunt schillernde Regenbögen hingen. Wir haben so unsere Grenzen. Ich zumindest. So kann ich schon mal ziemlich schlechtgelaunt werden, wenn auch nach mehrmaliger Bitte immer noch irgendwas in der Gegend rumliegt, weil offenbar einfach keine Zeit da war, es aufzuräumen. Oder mir fehlt das nötige Einfühlungsvermögen, wenn der Hase Durchfall hat und man seinen raschen Tod nahen sieht. Tragischerweise ist er dann tatsächlich bald von uns gegangen, doch immerhin nicht wegen Durchfalls. Meine Frauen haben ihn dann im Garten beigesetzt – in einem strahlend gelben Post-Paket. Später gab es einen neuen, nein, es gab sogar zwei. Weil ich mich in den zweiten verknallt hatte und zwei so Hoppelhasen ja ohnehin viel besser sind als nur einer. Klingt das irgendwie kitschig? Ja? Egal, wie es klingt, es war und ist nämlich einfach nur wunderbar mit diesen Menschen, meiner Familie, in Beziehung zu leben. Liebe war und ist für mich immer eine Trotzdem-Haltung gewesen. Trotz allem, was nicht passt, wird daran gearbeitet, das Miteinander langfristig und nachhaltig zu sichern. Die Beziehung zueinander ist schlicht zu wertvoll, als dass sie aufgegeben werden dürfte!

Neben der eigenen ist da dann auch noch die Herkunftsfamilie. Ich freue mich an vielen Begegnungen und Telefonaten, schätze das Miteinander, weiß aber auch, dass die große räumliche Distanz und manch menschliche Eigenheiten dieses Beziehungsnetz nicht immer begünstigen. Doch wirklich getrübt ist es nur dann, wenn einer sich ihm entzieht und dichtmacht. Was leider auch bei uns der Fall ist. Mich bedrückt das sehr, aber ich kann es leider auch nicht ändern. Beziehungen sind eben nicht immer nur gut und intakt, manche sind sogar extrem herausfordernd und belastend. Und was sich nicht ändern lässt, muss einfach auch mal stehengelassen werden. 

Bin ich ohne sie auch ich?

Ich habe Freunde. In der direkten Nachbarschaft, in der Stadt, in der wir leben, im Umfeld, in ganz Deutschland und weit darüber hinaus. Freunde, die ich unterschiedlich lange kenne, mit denen ich kurze oder längere Phasen des Lebens geteilt habe. Freunde, die ich um Hilfe bitten kann, wenn Not am Mann ist und die das Gleiche bei mir tun. Freude, mit denen ich Freizeit verbringe, Sport treibe, bete, ins Kino gehe, verreise, telefoniere, maile, in die Sauna oder ins Konzert gehe. Wir kochen zusammen, essen gemeinsam, lachen, weinen, sind glücklich und verzweifelt. Freunde, die ich nicht missen möchte. Nicht die hier in Deutschland, nicht die in Südafrika, Tansania oder wo auch immer sonst sie sind. Bin ich eigentlich ein ausgeprägter Beziehungsmensch? Wer will das abschließend schon beurteilen, aber so viel ist mal sicher: So gerne ich mit Menschen zusammen bin, so sehr liebe ich auch die Einsamkeit. Da treffe ich dann nur mich selbst. Und Gott. Es ist schon sehr lange her, dass ich als junger Mann eine weise alte Dame sagen hörte: „Wer nicht in der Lage ist, alleine, glücklich und zufrieden zu leben, der wird eine Zumutung und Belastung für jede Beziehung werden, weil er ständig versuchen wird, das eigene innere Defizit durch die Menschen stillen zu lassen, die um ihn herum sind.“ Ich finde, damit hat sie recht. Mich jedenfalls hat es überzeugt und enorm geprägt. Ich schaue immer mal wieder um mich herum und beobachte andere Menschen. Sie glauben ja nicht, wie viele mir da auffallen, die genau das Gegenteil von dem leben, was die alte Dame gesagt hat. Und damit ihre Beziehungen überfordern. Immer ist der andere zuständig, einen glücklich zu machen. Immer ist er oder sie es, der da sein muss, etwas tun muss, wie auch immer. Und ich spreche hier ja nicht von dem sehr zu schätzenden aufeinander achten und füreinander sorgen. Ich spreche von überzogener Erwartung die daher kommt, dass man sich selbst nicht im Blick hat. Nicht für sich selbst sorgt als Baustein gesunden Überlebens. Nicht um Egoismus geht es dabei, sondern darum, sich selbst zu ertragen und gut Freund mit sich zu sein. Beziehungspflege mit dem Wesen im Spiegel. Wie großartig ist das denn? Ich mag mich – mal mehr, mal weniger – und find´s schön, mit mir zusammen zu sein. Wenn ich allein bin, bin ich ja gar nicht allein. Da ist immer einer in meiner Nähe, auf den ich viel besser und aufmerksamer achten kann, wenn ich allein bin. Frei von Ablenkungen, frei von Störungen, frei von allem, was mich unfrei macht. Gott ist mir nah, wenn ich mit mir selbst zusammen bin. So treffe ich in der Beziehung zu mir auch immer gleich ihn.

„So gerne ich mit Menschen zusammen bin, so sehr liebe ich auch die Einsamkeit. Da treffe ich dann nur mich selbst. Und Gott.“

Stark und reich

Das nimmt kein Ende, das mit den Beziehungen. Wohin ich schaue, sie sind da. Besonders sind sie, und auch begehrt. Manche seit frühester Kindheit, manche kommen einfach mal so hinzu, wenn ich neue Leute kennenlerne. Manche verlieren sich leider auch im Laufe der Zeit. Für alle aber, die alten, jungen, leichten und schweren trage zunächst ich die Verantwortung. Ich entscheide, was ich daraus mache. Ich lege fest, wie wertvoll sie mir sind. Ich setze mich ein, um sie zu erhalten. Denn – auch wenn ich super gern allein bin – das steht fest: Ohne Beziehungen wäre mein Leben nicht das, was es ist. Ich wäre zwar immer noch ich, aber nicht ganz, nicht komplett, nur ein Teil dessen, was ich zu sein gemacht bin. Das, was ich verlieren würde, wenn ich nicht mehr hätte, was ich habe, es wäre zu schwer zu ertragen, als dass ich auch nur in die Nähe dieser tristen Möglichkeit kommen möchte. So atme ich tagaus, tagein die Beziehungen meines Lebens ein und lasse sie mich stark machen. Und reich.

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