Mossul - Der Ruf zu helfen lässt ihn nicht los

Essay

Und wieder eine Schreckensmeldung. Viele davon berühren uns kaum noch, es sei denn, sie betreffen unser direktes Lebensumfeld. „Gewöhnung setzt ein und damit die Hilflosigkeit“ oder „Elend macht hilflos“ hieß es in einigen der vielen Artikel der letzten Jahre, die dieses Thema zu ergründen suchten. Angesichts der weltweiten Not drängt sich bei vielen immer wieder neu die Frage auf: Und wo bleibt Gott? Warum hilft er nicht?

Machen wir einen Ausflug in den Nahen Osten. Der dringende Appell kam vom Humanitären Koordinator der UN im Irak: Bitte helft uns, die durch die Rückeroberung Mossuls kritisch Verwundeten zu versorgen. Es gebe sowohl für Zivilisten als auch für die Kämpfer kaum medizinische Versorgung, und die UN befürchte eine humanitäre Tragödie. In der Ninive-Ebene ist der IS genauso gefürchtet und verhasst wie seinerzeit Ninive selbst. Die Fahrt zur nächsten funktionierenden Klinik dauert bis zu zwei Stunden – zu weit entfernt für viele der durch Kugeln oder Minen schwer verwundeten Menschen.

Der Appell der UN allerdings verhallte fast ungehört – nur eine christliche Hilfsorganisation, reagierte: Samaritan’s Purse. Innerhalb weniger Wochen entstand eine Notfallklinik mit zwei Operationsräumen und 50 Betten. Dutzende Freiwillige, Ärzte, Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal nahmen mit Unterstützung der irakischen Regierung und des Militärs Anfang des Jahres ihre Arbeit auf. Einer von ihnen war Dr. Mark Bashar, dessen richtigen Namen wir hier aus Sicherheitsgründen nicht nennen. Er erzählt von seinem Einsatz als Arzt in diesem besseren Feldlazarett und von den beruflichen, psychischen und geistlichen Herausforderungen. 

Er macht sich auf den Weg

Dr. Bashar stammt aus dem Nahen Osten und kennt Kultur und Sprache bestens. Er selbst hat acht Jahre Bürgerkrieg durchlebt und ist mit Not vertraut. Aber er gehört nicht zu den Menschen, die von Katastropheneinsatz zu Katastropheneinsatz eilen. Trotzdem: der Ruf, die Bitte, hier in der Ninive-Ebene, vor den Toren Mossuls, mitzuhelfen, lässt ihn nicht los. Seine Frau sagt ihm scherzhaft, er solle bitte gehen. Und erinnert ihn dabei an den Mann, von dem wir aus der Bibel wissen, dass er Gottes Ruf nicht gefolgt ist. Der, der sich weigerte zu gehen und daraufhin drei Tage lang im Bauch eines großen Fisches landete. Jona. Dr. Bashar spürt, dass der Ruf um Hilfe, der ihn über Samaritan’s Purse erreicht, ein direkter Ruf Gottes an ihn ist. Und er macht sich auf den Weg. 

Die Klinik, in der er mitarbeitet, ist Anlaufstelle für viele Verwundete; vielen kann geholfen werden, andere überleben die schlimmen Verletzungen nicht. Dann bleibt dem Personal nur die Möglichkeit, sie im Sterbeprozess zu begleiten. Der allererste Patient am ersten Arbeitstag Dr. Bashars ist ein sechsjähriger Junge, der, wie seine Mutter, von mehreren Kugeln getroffen und lebensgefährlich verletzt ist. Er ist mit vielen anderen in einen Hinterhalt der IS-Kämpfer geraten und nun, wie seine Mutter, in diese Klinik gebracht worden. Wie durch ein Wunder überlebt der Junge.

„Seine Frau sagt ihm scherzhaft, er solle bitte gehen. Und erinnert ihn an den Mann, von dem es in der Bibel heißt, er wäre Gottes Ruf nicht gefolgt.“

Er ringt mit sich selbst

Als Dr. Bashar nach der Behandlung des Jungen in den nächsten „Operationsraum“ zu einem weiteren Verwundeten gebracht wird, stockt ihm der Atem: es ist ein IS-Kämpfer. Während er von dieser Situation erzählt, spürt man förmlich die Anspannung dieser Begegnung. Er durchlebt den Moment erneut, und man merkt, dass das nicht spurlos an ihm vorübergeht. Soeben hatte er einem Sechsjährigen das Leben gerettet – und der Mann, der nun vor ihm liegt, ist einer von denen, die dafür verantwortlich sind, dass Kinder wie dieser Sechsjährige leiden und zu Tode kommen. Wut und Empörung steigen in ihm auf, Zorn, auch gegenüber Gott: Gott, wie kannst du das zulassen? Wie kann es sein, dass Menschen wie dieser nun selbst verwundete Mann vor ihm so viel Leid anrichten? Gott, was soll das? Alles in ihm sträubt sich, in ihm kämpft es, er ringt mit sich. Dann wird ihm mit einem Male bewusst, dass es zwischen diesem verwundeten IS-Kämpfer und ihm nur einen einzigen Unterschied gibt, und zwar einen, den er nicht sich selbst verdankt: Er, Mark Bashar, ist wie der IS-Kämpfer schuldig. Denn auch er ist, so sagt Jesus es in der Bibel, in seinem Herzen ein Mörder gewesen. Nur: er hat die Liebe Gottes in Jesus Christus kennengelernt. Er weiß, dass seine Schuld vergeben ist, weil Jesus sein Leben für ihn gegeben und er deshalb Hoffnung und Zukunft hat. Eben das hat dieser IS-Kämpfer aber bisher nicht erfahren, hat deshalb keine Hoffnung, keine Zukunft. Und dann wird ihm klar: vermutlich hatte er auch nie eine Gelegenheit, von dieser Liebe Gottes in Jesus Christus zu hören.

Er weiß jetzt, dass es Gott ist, der ihn, Mark, in die Ebene von Ninive geführt hat, genauso wie auch seine Kollegen. Gott hat sie hergeführt, damit durch sie als seine Boten seine Fürsorge und Liebe sichtbar werden soll. Mark Bashar erkennt, dass es hier im Feldlazarett im Kriegsgebiet nicht nur um körperliche, sondern auch um geistliche Heilung geht. Hier, an diesem sicheren Ort, können Menschen von Gottes Liebe überwältigt werden, Vergebung und neues Leben in Jesus Christus erfahren. Wenn Männer wie Dr. Bashar tun, wozu Gott sie beruft. Was für eine Gelegenheit! Viele der schwer verwundeten Kämpfer sind desillusioniert von ihrer eigenen Religion – wo bleibt ihr Gott? Immer wieder drehen sich, wenn die Genesung einsetzt, die Gespräche um Gott. Ist er tatsächlich da? Gibt es einen Gott der Liebe? 

Er spricht viel von Jesus

Es ist kein Geheimnis, dass in diesem Feldlazarett Menschen ohne Ansehen der Person im Namen des Herrn Jesus geholfen wird und dass man gern von ihm redet. Das wissen nicht nur die UN-Vertreter, die irakische Regierung und das Militär, sondern auch viele der bislang über 1.300 Patienten. Immer wieder bezeugen Genesende, dass es sie „gepackt“ habe, dass sie ebenfalls mit diesem Jesus Christus leben wollen. Und dann erzählt Dr. Bashar von zwei verwundeten IS-Kämpfern, die sich in der Klinik in Hörweite unterhalten: „Der IS hat uns gelehrt, dass Menschen aus dem Westen böse sind und dass Christen unsere Feinde sind, Ungläubige, die umgebracht werden müssen. Aber schau‘ sie dir an – es sind die Christen, die sich um uns kümmern! Das tut keiner von unseren eigenen Leuten. Irgendetwas stimmt hier nicht. Was man uns gelehrt hat, kann nicht richtig sein.“ 

Nicht menschliche Argumente oder Überzeugungen stehen hier im Vordergrund. Es ist die Kraft Gottes, die sichtbar und erfahrbar wird. Kurz vor seiner Abreise, kurz bevor sein Dienst in der Klinik zu einem Ende kommt, wird Dr. Bashar Zeuge, wie sein zweiter Patient, der IS-Kämpfer, den er direkt nach dem sechsjährigen Jungen behandelt hat, das Feldlazarett in einem Rollstuhl verlässt. Beide Beine mussten amputiert werden, um sein Leben zu retten. Doch er ist überwältigt von der Liebe Gottes, die er hier erfahren hat. Körperlich versehrt zwar, und dennoch ein neuer Mensch, der Hoffnung und Zukunft gefunden hat in Jesus Christus!

Magazin Sommer 2017

Bernd Gülker, Jahrgang 1953, arbeitet in Berlin und lebt im Umland. Er ist verheiratet mit Margret und Vater von drei erwachsenen Kindern. Als Geschäftsführer von „Geschenke der Hoffnung“ erlebt er in Katastrophensituationen immer wieder auch persönlich viel Leid und Not.

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