Gott ist immer im Kopf

Persönlich

Wie sich nahezu alles von einem Moment auf den anderen verändern kann, wenn ein Mensch die eigene Sprachfähigkeit verliert, zeigt die Geschichte von Jochen Weth. Sie zeigt auch, dass die Frage nach Gottes Eingreifen in notvollen Situationen nicht immer sofort zu beantworten ist. Vor allem aber macht sie Mut.

Haben Sie schon einmal in einem Schnellrestaurant ein Menü bestellt? Wenn ja, dann war das vermutlich wenig aufregend. Menü auswählen, Bestellung aufgeben, bezahlen. Warten aufs Essen. Guten Appetit! Für einen Aphasiker grenzt dieser schlichte Vorgang allerdings beinahe an eine Meisterleistung. "Guten Tag, welches Menü? Ketchup oder Mayo? Welches Getränk? Klein, Mittel oder Groß?“ Oder der Super-Gau auf Englisch: "Small, medium or large?" Unzählige Fragen, runter gerattert in Höchstgeschwindigkeit, dazu unzählige Gäste um einen herum, die gleichzeitig bestellen. Menschen hinter dir, die möglichst schnell essen möchten - deshalb sind sie ja hier. Menschen, die nicht warten wollen, bis du überhaupt in deinem Kopf die Wörter zu einem Satz zusammenbringen kannst, den du gerade gefragt wurdest. Vom Bilden eines Antwortsatzes ganz zu schweigen...

Aphasie (griech. Sprachlosigkeit) ist laut Lexikon „eine erworbene Störung der Sprache“. Das klingt höflich zurückhaltend. Für meinen Bruder, der das erlebt, fühlt es sich eher an wie ein Orkan, der ungefragt durch sein Leben fegt. Vier Jahre sind die Schlaganfälle jetzt her. Sprechen, Schreiben, Lesen - alles ist jetzt anders. Um jedes Wort, um jeden Satz muss er kämpfen. „Alles komplett anders“! Den Satz sagt er oft. Und meint damit so viel. Als seine Schwester telefoniere ich häufig mit ihm. So wie wir es als Geschwister schon immer gehalten haben. Wir reden dann über dies und das. Über Gott und die Welt. Aus unseren Telefongesprächen ist dieser Artikel entstanden. Sprechen fällt meinem Bruder im Moment leichter als Schreiben. Deshalb leihe ich ihm hierfür meine Sprache. Damit er auch anderen erzählen kann von sich und seinem Leben in Gottes Welt.

Deine Wünsche und Träume

In unseren Gesprächen reden wir immer wieder über Wünsche und Lebensträume. Früher waren es für dich Dinge wie eine berufliche Weiterbildung, ein Segelurlaub auf der Müritz, eine eigene Familie zu gründen. Die Schlaganfälle als Folge deines seit langem kranken Herzens ereigneten sich dann nur wenige Tage vor deiner geplanten Hochzeit. Zu dieser kam es dann nicht mehr. Welche Wünsche und Träume sind dir heute, vier Jahre später, noch geblieben? "Gesundheit", sagst du ganz spontan. Dabei weißt du, dass es sehr unwahrscheinlich ist, völlig gesund zu werden. Aber wenigstens den momentanen Stand halten, dass es nicht schlechter wird, vor allem mit den Herzproblemen, das ist dir wichtig. Ein anderer Wunschgedanke ist, wieder eine Arbeit zu finden, die dir Spaß macht und dich erfüllt, so wie früher. "Ganz wichtig!", wirfst du ein. Spaß haben, wieder schöne Dinge erleben. Ich muss am Telefon schmunzeln, als du bescheiden hinzufügst: "Also, vielleicht einen halben Tag lang, oder mal Urlaub machen oder für zwei Stunden." Dann reden wir eine Weile über die schönen Dinge, die du auch jetzt schon wieder erleben kannst. Gerade warst du zum ersten Mal im Urlaub. Du hast echte Freunde, die dich über all die Zeit begleiten und deine Familie, die für dich da ist.  

Du und die Freiheit

Wenn es für dich so etwas gibt wie ein Hauptwort in deinem Leben, den ganz großen Wunsch, dann ist es Freiheit. Das war schon früher ein Lieblingswort und ist es bis heute geblieben. Was bedeutet dieses Wort für dich? "Freiheit, das ist sehr, sehr wichtig!", erklärst du mit sicherer Stimme. "Freiheit heißt rausgucken, weißt du?!". Ja, Freiheit ist für dich der Blick in die Weite. Früher hast du die Weite beim Segeln und Kanufahren genossen. Heute ist es der Blick aus deinem Wohnzimmerfenster über die Dächer hinweg. Mehr noch das Laufen über das Flugplatzgelände auf der Anhöhe. Freiheit erlebst du aber auch in deinem Glauben. Wo ist Gott in deinem Leben? frage ich unvermittelt. Du stutzt kurz. Ich kann es durch die Leitung hören. "Immer da. Natürlich den ganzen Tag. Jesus und der Heilige Geist auch." Vor den Schlaganfällen bist du in eine Gemeinde gegangen, warst im Hauskreis. Das ist im Moment zu anstrengend. Aber du hörst oft Andachten und Predigten im Internet, die Losung kannst du lesen. Bibel lesen dagegen ist schwierig, zu viel und zu langer Text, zu viele Eindrücke auf einmal. Doch viele Geschichten sind dir vertraut. Die hast du in dir. 

Gott ist immer im Kopf

Und reden mit Gott? Draußen an der Luft, das sind zurzeit für dich die besten Gelegenheiten, um Gott nahe zu sein, zu beten. Beim Laufen auf der Anhöhe zum Beispiel. Hier wird der Kopf frei von allem anderen. "Gott ist immer im Kopf", sagst du ganz selbstverständlich. Ich merke, die Frage nach dem "Wo ist Gott?" scheint dir belanglos. Es ist für dich normal, dass Gott immer um dich herum ist. Hat sich daran nichts geändert, seit du vor vier Jahren so krank geworden bist? frage ich. Und dann erzählst du mir noch mal von damals. Vor über 20 Jahren, du warst gerade nach Krelingen gegangen, wolltest Griechisch und Hebräisch lernen als Vorbereitung für dein Theologiestudium. Schon da hat Gott dich herausgeholt aus deinen Plänen. Du hattest deine erste große Herz-OP. Zehn Tage danach eine Hirnembolie. Es war ungewiss, wenn nicht sogar unwahrscheinlich, eine weitere OP zu überleben. Aber du lebst. Auch nach den weiteren schweren Eingriffen, die du am offenen Herzen hattest. Du machst mir noch einmal klar, wie wichtig dieser Moment damals für dein Leben war. Du hast plötzlich gewusst: Gott ist da. Das hat dir Frieden gegeben und dich auf eine besondere Art freigemacht.

„Du denkst rückwärts, nicht vorwärts. Immer von der Ewigkeit her, nicht vom Kreuz, sondern vom leeren Grab. Es ist eine andere Perspektive. Du denkst von der Ewigkeit her. Und sagst häufig: ‚Ewigkeit ist kein Problem, aber Erde, das ist komplizierter!“

Du hast ihn gesehen

Jetzt willst du mir von Hiob erzählen. Die Parallelen von seinem Leben mit deinem. Du hast Bibelstellen im Kopf, hast Gedanken, die dir wichtig sind, und kannst es mir im Augenblick nicht verständlich machen. Die Worte wollen nicht so wie du willst. Trotz intensiver Logopädie und regelmäßiger harter Arbeit. Das ist manchmal frustrierend. Wir verschieben unser Gespräch auf ein anderes Mal. Du schreibst mir in der Zwischenzeit zwei der Bibelstellen per Mail. Ich lese sie nach, dann telefonieren wir wieder. "Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich gesehen." (Hiob, 42,5) Und die andere: "Und der Herr wandte das Geschick Hiobs..." (Vers 10) Wir reden eine Weile über Hiob.  Die Reihenfolge ist entscheidend, sagst du. Hiob hat zuerst Frieden gefunden und dann hat Gott ihn beschenkt. Hiob hat in seiner Not an Gott festgehalten, hat ihn "gesehen". So ein Gefühl muss es damals vor der OP für dich gewesen sein, als du wusstest: Morgen bin ich vielleicht tot. Seit dieser Zeit hast du eine Gewissheit und einen Frieden in dir, der dir auch in den vergangenen Jahren nicht genommen wurde. Du hast viele Kommilitonen erlebt, die während des Theologiestudiums in Glaubenskrisen geraten sind, grundlegende Dinge in Frage stellten. Für dich war immer klar: Gott hat alles im Griff. Er ist da. Das klingt sehr einfach. Wie ein Spaziergang. Nein, so ist es nicht. Aber dieses Sehen damals hat deine Perspektive verändert. 

Ewigkeit ist kein Problem

In deiner Wohnung steht ein Holzkreuz. Unten am Kreuz, direkt mit ihm verbunden, ist das leere Grab. Es ist ein Zeichen in deiner Wohnung - und in deinem Leben. Etwas Bedeutsames willst du mir sagen, das kann ich an deiner Stimme spüren. Immer wieder muss ich nachfragen, weil ich deinen zentralen Gedanken nicht greifen kann. Geht es dir um das Kreuz? Oder darum, dass Jesus auferstanden ist und lebt? Nein, es ist noch etwas anderes, das du mit diesem Holzkreuz verbindest. Aber wichtige Gedanken brauchen Zeit. Wörter müssen im Kopf gefunden und ausgesprochen werden. Dann endlich verstehe ich. Du denkst rückwärts, nicht vorwärts. Immer von der Ewigkeit her, nicht vom Kreuz, sondern vom leeren Grab. Es ist eine andere Perspektive. "Ja, ganz genau so ist es!" rufst du bestätigend ins Telefon. Diesen Satz benutzt du gerne, wenn du dich verstanden weißt. „Ja, ganz genau!“ Wie eine Erleichterung für beide Seiten. Du denkst von der Ewigkeit her. Und sagst häufig: "Ewigkeit ist kein Problem, aber Erde, das ist komplizierter!"  

Bis alle Fragen beantwortet sind

Einmal werden wir bei Gott sein, dann ist alles Leid vorbei. An diese Verheißung der Bibel hältst du dich. Aber was ist mit dem Leben hier, heute?  „Ich glaube, ich bin noch nicht fertig“, sagst du leise. Ich habe auch Fragezeichen. Ich weiß nicht genau, wofür das alles. "Das weiß ich noch nicht." Und du sagst es mit dem "noch" - voller Erwartung auf die Antwort, die Gott dir hoffentlich geben wird. Manchmal ist es schwer auszuhalten, dieses neue Leben. Es hat sich verändert. Du hast dich verändert. Dieses Kämpfen und Durchhalten und immer wieder Aufstehen braucht Mut und Vertrauen. Und es braucht andere Menschen, die verstehen, die dich verstehen. Die geduldig warten können. Mit dir. Bis alle Fragen beantwortet sind.

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