Wieso, weshalb, warum?
Reportage
Dass es bei einer Bibelübersetzung nicht nur darum geht, ein Buch in einer speziellen Sprache bereitzustellen, macht der Bericht von Silke Sauer deutlich. Wie das Arbeiten auch die Bildung des betreffenden Landes beeinflusst, das kulturelle Verhalten prägt und wieso man dafür ins Gefängnis kommt, lesen Sie am Beispiel von Äthiopien.
Tefera hat Glück gehabt. Dort, wo er aufgewachsen ist, im Äthiopien der 80er Jahre, gehört er zu den Bessergestellten. Sein Vater ist Händler in einer Provinz im unwegsamen Bergland des Südwestens. Wie die meisten Angehörigen der dortigen Elite sind Tefera und seine Familie Amharen und sprechen Amharisch, die Nationalsprache Äthiopiens. Im Herzen aber ist Tefera ein Me’en, wie seine Freunde auch. Die Me’en sind ein Volk von 150.000 Menschen, die vom Ackerbau und der Viehzucht leben. Sie sprechen eine Sprache, die reich und klangvoll ist, aber für die es noch nicht einmal eine Schrift, geschweige denn Schulbücher gibt. Deswegen wird in der Schule auf Amharisch unterrichtet und Tefera hat gleich doppelt Glück, schließlich ist das seine Muttersprache. Im Unterschied zu seinen Me’en-Freunden kommt er daher gut mit. Von 30 Me’en-Schulanfängern brechen dagegen 25 die Schule nach kurzer Zeit wieder ab und kehren nie wieder dorthin zurück. Ohne die Chance auf Bildung wartet auf sie ein Leben der Armut und Perspektivlosigkeit. Viele von ihnen verfallen dem Alkohol. Am Markttag, wenn Bier und Schnaps verkauft werden, hallen die Berge von dem Grölen der Betrunkenen wider. Dabei sind die Me’en freundliche und großzügige Menschen. Sie lieben ihre Kinder und müssen doch zusehen, wie viele von ihnen in den kalten Nächten frieren, krank werden oder sogar sterben.
Ein Mann mit Vision
Doch auch Teferas Glück währt nicht lange. Er verliert seine Eltern, er selbst landet einige Jahre später im Gefängnis. Sein einziges Verbrechen: Er ist verwandt mit einem Mann, der Christ ist. Dieser Mann, Teferas Onkel, ist nicht einfach nur Christ, sondern er hat auch eine besondere Vision: Er träumt davon, dass die Bibel in Me’en übersetzt wird. Dazu arbeitet er mit Hans-Georg Will zusammen, einem deutschen Mitarbeiter von Wycliff. Diese christliche Organisation setzt sich dafür ein, dass Menschen Zugang zu Gottes Wort bekommen, und zwar in der Sprache, die sie am besten verstehen. Teferas Onkel und Hans-Georg Will erforschen gemeinsam die Laute der Me’en-Sprache, entschlüsseln die komplexe Grammatik, arbeiten an einer geeigneten Rechtschreibung und beginnen mit der Übersetzung der ersten biblischen Geschichten. Doch es gibt einflussreiche Männer, denen diese Arbeit nicht gefällt und die sich den Veränderungen entgegenstemmen. Sie lassen Teferas Onkel verhaften und später auch Tefera selbst, um damit seinen Onkel zusätzlich unter Druck zu setzen.
Das trägt Früchte
Die Zeit im Gefängnis verändert Tefera. Aber nicht so, wie die Verfolger sich das vorgestellt haben. Denn im Gefängnis begegnet Tefera Jesus und öffnet ihm sein Herz. Mitten in der Haft findet er die Freiheit. Als er entlassen wird, erzählt er anderen von der Hoffnung, die er gefunden hat.
„Viele von ihnen verfallen dem Alkohol. Am Markttag, wenn Bier und Schnaps verkauft werden, hallen die Berge von dem Grölen der Betrunkenen wider. “
Und auch die Arbeit an der Me’en-Bibel geht weiter, trotz aller Widerstände. Schon bevor die Übersetzung fertig ist, hat die Arbeit bereits praktische Auswirkungen auf die Me’en. Denn jetzt, wo man Me’en schreiben kann, wird der Schulunterricht zunehmend in der eigenen Sprache abgehalten. Das trägt Früchte: Immer mehr Kinder schließen die Schule ab, die ersten Me’en beginnen zu studieren.
Früher waren es Bierpartys
Einige Zeit später stirbt Teferas Onkel, auch Hans-Georg Will kehrt 1996 nach Deutschland zurück. Andere treten an ihre Stelle und machen weiter, unter anderem der deutsche Wycliff-Mitarbeiter Achim Diehl. Gemeinsam arbeitet das Team weiter daran, Teile der Bibel zu übersetzen. Mit großer Sorgfalt entsteht Kapitel um Kapitel auf Me’en. Heute ist das Neue Testament auf Me’en fast fertig. Die Evangelien und einzelne biblische Geschichten sind bereits im Umlauf und werden gelesen und gehört. Gemeinden entstehen, über 100 sind es schon. Wo früher Bierpartys gefeiert wurden, treffen sich jetzt Hauskreise. Den Me’en geht es sichtbar besser, sie sind gesünder und ernähren sich vielseitiger. Zu schön, um wahr zu sein? Eine Story aus der Kitschkiste der Mission? Wie kann sich ein ganzes Volk so verändern?
Wie Jesus mit den Geistern spricht
Hans-Georg Will hat diese Veränderung selbst gesehen. Er sagt: „Die Me’en nehmen das Evangelium her, sie glauben, was sie lesen und hören und setzen es um.“ Die Me’en erleben die lebensverändernde Kraft des Wortes Gottes. Es ist nicht das Wort eines Predigers oder eines Missionars. Es ist ein lebendiges Wort, und wer es anwendet, entdeckt seine Kraft. In der Kultur der Me’en spielen böse Geister und Besessenheit eine große Rolle. Wenn die Me’en nun im Evangelium lesen, wie Jesus den Geistern gebietet, machen sie sich das im Gebet zu eigen. Und genau wie die ersten Christen erleben sie das Wunder, dass die Kraft Gottes stärker ist als alle lebensfeindlichen Kräfte. Das ist es, was die Menschen überzeugt und warum sie ihr Leben so radikal ändern. Im Wort Gottes begegnen sie dem lebendigen Christus selbst. Zusammen mit den besseren Bildungschancen können sie so ihr Leben auf eine komplett neue Grundlage stellen.
„Und genau wie die ersten Christen erleben sie das Wunder, dass die Kraft Gottes stärker ist als alle lebens-feindlichen Kräfte.“
Es bleibt noch viel zu tun
Und Tefera? Tefera ist seit einem Jahr der Leiter von Wycliff Äthiopien und möchte es noch erleben, dass alle 88 Sprachen in Äthiopien Zugang zu Gottes Wort bekommen. Er ist heute ein gefragter Mann und auf der ganzen Welt unterwegs. Dennoch wird er nicht müde, davon zu erzählen, wie alles anfing, damals bei den Me’en. Und davon, wie Gottes lebensveränderndes Wort eine ganze Gesellschaft zum Guten verändert hat.
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