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Was andere in der Bibel lesen

Dokumentation

Wie es ist, wenn Menschen anderer Kulturkreise oder Religionen das Wort Gottes lesen, weiß Dr. Detlef Blöcher. Was sie lesen, wie sie interpretieren, was sie lesen, was sie verstehen und was nicht, erklärt uns der Naturwissenschaftler, der lange selbst im arabischen Raum lebte. Und darüber hinaus viel Erfahrung und Einblick in aller Herren Länder hat. Er ist Missionsdirektor und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Missionen.

… Seit Jahren lebt er bei den Adivasi im indischen Urwald. Mühsam lernt er ihre Sprache, passt sich ihrer Lebensweise an, wird einer von ihnen. Er erzählt ihnen Geschichten aus dem Buch des Lebens. Einige vertrauen sich daraufhin Jesus an. Sie erkennen, dass er stärker ist als die Geister, die sie fürchten. Sie erleben die Befreiung von der Macht der Götter und wachsen im Glauben. Und dann, irgendwann, ist es endlich soweit: der Missionar kennt ihre Sprache gut genug, dass er mit der Übersetzung der Bibel beginnen kann. So fragt er die jungen Christen, mit welchem Buch er beginnen soll, einem Evangelium oder der Genesis? Was ist ihnen besonders wichtig? Sie denken eine Weile nach und entscheiden sich für das 3. Buch Mose, die Anweisungen Gottes an das Volk Israel in der Wüste Sinai. Was für uns Europäer vermutlich das letzte Buch wäre, ist für sie das wichtigste, weil es die Frage aufwirft: Wie können wir als Gottes Volk richtig leben, wenn Gott in unserer Mitte wohnt … 

Gnade oder Pflichterfüllung?

Vor 500 Jahren quälte den Augustinermönch Martin Luther die Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ All seine Gebete und frommen Leistungen schienen ihm so unbedeutend. Bis er eines Tages auf Römer 1,17 stieß: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Nicht durch gute Taten, sondern durch Gottes Gnade können wir vor ihm bestehen. Was für eine Befreiung! Das wird zum Fundament seines Glaubens und zentralen Thema der Reformation. 

Für meine muslimischen Freunde dagegen stellt Sünde kein echtes Problem dar: Allah sei überaus barmherzig und gnädig. Er habe Adam seinen kleinen Lapsus vergeben – und werde es sicher auch bei ihren tun. Dafür beschäftigt sie die Frage, wie sie Gott recht anbeten können. Die kleinste Abweichung macht bereits eine religiöse Pflicht ungültig: ein Milligramm Schweineschmalz verdirbt 1 Mio. kg Rindfleisch. Allah ist absolut souverän und frei in seinen Entscheidungen; wer kann dann wissen, ob er am Jüngsten Tag ins Paradies oder in die Hölle kommt? 

So unterschiedlich die Menschen, so verschieden ihre Fragen – und die Worte, durch die Gott zu ihnen spricht.

Vier Evangelien. Vier Zielgruppen.

Bereits die vier Evangelien im Neuen Testament sind jeweils an einen besonderen Personenkreis gerichtet. Matthäus schrieb für Juden und erklärte Jesus als den im Alten Testament verheißenen Messias und Retter Israels. Markus hatte römische Leser im Blick; darum zeigte er Jesus als den Knecht Gottes auf, das Gegenbild zum römischen Caesar, und erklärte die örtlichen Gegebenheiten im Heiligen Land. Lukas wandte sich an Griechen und wies auf Jesu Zuwendung zu Heiden, Frauen, Ausgestoßene hin. Und Johannes schrieb für die Gemeinde und hob Jesu einzigartige Beziehung zu seinem himmlischen Vater hervor. 

So ist es auch heute noch: Das Markusevangelium spricht in seiner knappen, zeitlich geordneten, gut verständlichen Form besonders Latinos an; das Lukas-Evangelium dagegen Orientalen.

„Nicht durch gute Taten, sondern durch Gottes Gnade können wir vor ihm bestehen.“

Kannst du mal bitte Korrekturlesen?

Als ich im Orient arbeitete, schrieb ich gerne ein Gleichnis Jesu mit der Hand ab und bat dann einen arabischen Arbeitskollegen, meine Handschrift zu korrigieren. Er nahm bereitwillig das Blatt entgegen und erklärte mir zwei Tage später, welchen Buchstaben ich eleganter malen müsse – anschließend folgte stets die Frage: „Was ist das für eine Geschichte?“ Ich antwortete ausweichend: in den nächsten Tagen würde ich eine weitere Geschichte schreiben, und er könne mir wieder mit dem Arabisch helfen. Beim nächsten Mal kam wieder die gleiche Frage: „Was ist das für eine Geschichte! Ich will das wissen“. Schließlich erklärte ich ihm, dass es Geschichten aus dem Evangelium seien, und fragte ihn, ob er sie selbst einmal lesen möchte. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen, denn Gottes Wort hatte sein Herz berührt. Als ich ihm meine arabische Bibel „auslieh“, begann er gleich zu lesen und konnte die folgende Nacht nicht mehr aufhören – so sehr sprach die Botschaft zu ihm. 

Von Haiti bis ins Hochgebirge

Dabei sprechen unterschiedliche Bibeltexte jeweils andere Menschen an: In Haiti sind es besonders die Geschichten über Jesu Macht über Dämonen und Krankheiten. In Peru vor allem die Worte über Hirten und Schafe, selbst, wenn viele inzwischen in der Stadt wohnen und nicht mehr als Alpaka-Hirten im Hochland. In Brasilien ist Psalm 91 beliebt: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt". Dieser Spruch hängt in vielen Wohnungen, bei Evangelischen, Katholiken und selbst Anhängern von Sekten. Die kraftvollen, wunderbaren Worte versprechen Schutz vor den Gefahren des unsicheren Lebens, Schatten in der tropischen Hitze, Segen im Alltag. In vielen Schulen und Firmen ist eine Bibel aufgestellt, aufgeschlagen auf dieser Seite. Das Bibelwort spricht die Menschen an, selbst wenn es zuweilen zum Amulett verkommt. Bei Türken findet Jesu Begegnung mit der Ehebrecherin (Johannes 6) besonderes Interesse. Sicher wird er den ersten Stein auf sie werfen, ist die einhellige Meinung. Dass Jesus ihr neues Leben schenkt und sie auffordert, jetzt nicht mehr zu sündigen, überrascht sie maßlos. Diese Botschaft wühlt die Zuhörer auf. Afrikanische Kinder spricht besonders Psalm 139,14 an, dass Gott sie wunderbar geschaffen hat und sie unendlich wertvoll sind – während Kinder in ihrer eigenen Gesellschaft meist wenig gelten.

„Der heilige Gott tritt aus der Unsichtbarkeit heraus, zeigt sein Herz und in Jesus Christus sein Gesicht.“

Der Vater macht sich lächerlich

Ich denke an einen Bibelabend mit arabischen Christen. Gemeinsam lesen wir das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11ff) und tauschen uns darüber aus. Mich beeindruckt die Ehrlichkeit des verlorenen Sohnes; er erkennt seine verzweifelte Lage, will zu seinem Vater zurückkehren und sich bei ihm entschuldigen: ein Ausdruck echter Umkehr. Meine arabischen Freunde staunen über die Liebe des Vaters: Obwohl der Sohn seine Ehre geschändet hatte, nimmt er ihn wieder auf. Mehr noch: Er rennt ihm entgegen, macht sich damit im Dorf lächerlich, um dessen Leben zu retten. Er umarmt ihn, bevor die Dorfjugend ihn erwischt und vermutlich totgeschlagen hätte. Wie unterschiedlich spricht Gottes Wort zu uns. Menschen im globalen Süden sehen vor allem Ehre, Scham und Gemeinschaft – wie zu biblischen Zeiten – Europäer dagegen Schuld und selbstbestimmtes Handeln. Darum ist es so bereichernd, mit anderen gemeinsam Gottes Wort zu lesen.

Gott greift ein, bewahrt, schafft Neues

Die größten Teile der Bibel sind historische Berichte, wie Menschen Gottes Eingreifen erfahren haben. Erlebte Theologie: Gott greift tatsächlich in Raum und Zeit ein, bewahrt, schafft Neues. Sie sprechen bis heute ganz viele Menschen an. Der heilige Gott gibt nicht nur Anweisungen – er tritt selbst aus der Unsichtbarkeit heraus, zeigt sein Herz und in Jesus Christus sein Gesicht. Die Bibel ist Gottes Liebesbrief an uns Menschen, will uns retten und in die Gemeinschaft mit ihm ziehen. 

Wenn Jesus predigte, dann erzählte er meist Geschichten aus dem Alltag und erklärte daran Gottes Wesen. Gott handelt so anders als wir Menschen. Das traf die Zuhörer ins Herz (Markus 1,22+27). Auch heute lernen die meisten Menschen weltweit nicht durch abstrakte Begriffe, theoretische Konzepte oder logische Argumente, sondern vor allem durch anschauliche Beispielgeschichten und spannende Erzählungen. Erzählte Theologie, so wie wir es in der Bibel finden. Der Glaube kommt aus dem Hören der Botschaft (Römer 10,17). Das ist wirklich Gute Nachricht für jeden!

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