Hinter Mauern

Stille in Triefenstein

Nebel hüllt mich ein, als ich an diesem Morgen mein Haus verlasse, mich auf den Weg mache, zu einem nicht ganz abzusehenden Experiment. Aber so ist das mit Experimenten. Man weiß vorher nicht, was am Ende dabei herauskommt. Mein Ziel liegt gut eine Stunde nordöstlich auf zum Teil kleinsten Landstraßen vor mir. Macht nichts. Ich bin nicht in Eile. Im Gegenteil. Ich bin im Ruhemodus, auf Stille eingestellt. Darauf, mir selbst und Gott zu begegnen. Ich möchte wissen, wie es ist, plötzlich aus dem turbulenten Alltag stark abzubremsen und möglichst ganz zum Stillstand zu kommen. Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Das ist nicht meine erste Erfahrung mit der Stille. Ich bin auch nicht das erste Mal unterwegs zu dem Ort, zu dem ich will. Ich kenne mich dort ein wenig aus, kenne den ein oder anderen, der mir dort über den Weg laufen wird, kenne auch die Fragen, die mir hier und da schon zu diesem Ausflug gestellt wurden. Ob ich denn tatsächlich glaube, von jetzt auf gleich in kürzester Zeit zur Ruhe kommen zu können. Die Erfahrung lehrt nämlich etwas anderes. Dass es gern mal ein bis zwei Tage dauern kann, bis die Seele überhaupt in der Lage ist, langsam zu schwingen. Ich tu’s dennoch und weiß tatsächlich nicht, wie es wird. Bin aufrichtig gespannt und erwartungsvoll. Und dann komm ich an, im Kloster Triefenstein.

Wilde Gedanken treiben mich um

Bruder Markus empfängt mich freundlich und wir trinken einen Kaffee zusammen, sprechen in aller Kürze über das, was ich vorhabe. Ob ich etwas Bestimmtes brauche, fragt er mich. Ich brauche nichts, versichere ich ihm, und er geht wieder an sein Tagwerk. Ich selbst mache mich auf den Weg in die Kellerkapelle. Ich liebe diesen Raum. Das weite Gewölbe, hier und da schwach erleuchtet durch indirekte Wandlampen und Kerzen. Ich nehme Platz, schließe die Augen und horche in mich hinein. Einen Augenblick sitze ich so da in der stillen Einsamkeit und genieße den Moment. Es ist wirklich ruhig um mich herum und fast ein wenig auch in mir. Wären da nicht all diese Gedanken, die mir durch den Sinn huschen, hin und her, wild, hektisch, aufdringlich. Ich könnte versuchen, sie zu ignorieren. Einfach so tun, als wären sie nicht da oder als würde ich sie nicht sehen, hören, spüren. Aber das will ich nicht. Das würde zu viel Energie kosten. Also entschließe ich mich von Anfang an, diese Gedanken als vitalen Teil meines Lebens in diesen Tag der Stille zu integrieren. Sie gewähren zu lassen, ja, mehr noch, sie willkommen zu heißen. Darin vielleicht sogar das Reden Gottes zu entdecken.

Jesus Christus erbarme dich meiner

Dann fange ich an, meine Atmung zu kontrollieren. Langsam und tief ein- und ausatmen. Einen Rhythmus entwickeln, mich zu konzentrieren. Dazu beschäftige ich mich mit etwas, dass ich unter „Herzensgebet“ kennengelernt habe. Beim Einatmen formuliere ich in Gedanken den einen Satz, beim Ausatmen einen anderen. Immer wieder. Das, was ich still vor mich hin sage, wird so normal und gewöhnlich, wie das Luftholen selbst. „Jesus Christus erbarme dich meiner“. So wie Sauerstoff meine Lungen füllt, übernimmt diese Formel tiefer Hinwendung zu Gott meine Seele. „Jesus Christus“ – einatmen, kurz die Luft anhalten. „Erbarme dich meiner“ – ausatmen. Immer wieder, regelmäßig, ruhig, wohltuend. Einatmen, ausatmen, ein, aus.
Da drängt sich ein Gedanke in den Weg. Ich frage mich plötzlich, ob es mir gelingen wird, die noch offenen Rechnungen auf meinem Schreibtisch rechtzeitig zu zahlen. Ob ich ausreichend Geld zur Hand haben werde für das, was in den kommenden Wochen und Monaten zu erledigen sein wird. „Jesus Christus erbarme dich meiner“. Tief atme ich ein und wieder aus. Spüre, wie die drängende Frage nach dem Geld zwar nicht verschwindet, aber auf einen anderen Platz rutscht. Zur Seite, dahin, wo ich sie noch sehen, sie mich aber gerade nicht aus der Ruhe bringen kann. „Jesus Christus erbarme dich meiner“. Plötzlich tauchen meine Kinder vor meinem inneren Auge auf. Sophia, die gestern Abend noch so verzweifelt war und bitter geweint hat aus Angst, ob sie mit der Schule zurechtkommt. Und aus tiefer Sorge, ob wir sie denn noch lieb haben würden, wo sie uns doch so oft enttäuscht. Tut sie gar nicht, versichere ich ihr. Aber das kommt aus meinem Mund leichter raus als in ihre Seele rein. Hannes taucht in meinen Gedanken auf. Er hat’s nicht leicht gerade. Mit sich, mit mir, mit dem Leben im Allgemeinen. Elena huscht mir durch den Sinn, mit all ihren Fragen und Michel ist auch da. Meine großartigen Kinder, deren Leben und Entwicklung mir immer wieder auch Sorgen macht. „Jesus Christus erbarme dich meiner“. Ich liebe meine Kinder und erlaube der Sorge doch jetzt nicht, Besitz von mir zu nehmen. Einatmen, ausatmen. Stille.

Ich tauche ein in das Wissen, dass Gott da ist

Ich öffne die Augen und habe plötzlich die feste Gewissheit, gut aufgehoben zu sein. Geborgen. Mein Blick fällt auf die dicken Mauern des Gewölbes und ich fühle mich wie in einem Schutzraum. „Ein feste Burg ist unser Gott“, geht mir die Melodie des alten Chorales durch den Sinn.

„Gott ist für mich wie die Wände dieses Kellers.“

Ich lehne mich nach hinten, erlaube der Ruhe mich zu ergreifen und tauche ein in das Wissen, dass Gott da ist. Dass er weiß, was mich beschäftigt, dass es ihm weder verborgen noch egal ist. Gott ist für mich wie die Wände dieses Kellers. Er schirmt mich ab und schützt mich, ohne mich einzusperren. Denn die Tür ist auf und ich bin freiwillig hier. Dann werde ich ganz ruhig und verliere mein Gefühl für die Zeit. Sitze einfach so da und übe das Herzensgebet. „Jesus Christus, erbarme dich meiner, Jesus Christus, erbarme dich meiner“.

Mitten in diese Entspannung hinein flackern Bilder des Krieges und der Unruhe auf. Gerade heute Morgen hatte ich gelesen, dass in Kabul eine Afghanin zuerst brutal geschlagen, dann vom Dach eines Hauses geworfen, mehrfach überfahren, angezündet und in einen Fluss geworfen wurde. Weil man ihr unterstellt hatte, einen Koran verbrannt zu haben. Was sie leugnete, weil sie den Koran schätze und ihn nie verbrennen würde. Sie brachten sie dennoch um. Ich sehe Bilder einer Dokumentation über die Gewalt weißer Polizisten gegen schwarze Jugendliche in den USA. Denke an die Situation in der Ukraine – und bringe mich nur mühsam wieder zurück in die Spur. „Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Die Ruhe dieses Tages ist hart umkämpft. Die nächste Attacke meiner Gedanken ist noch übler. Ich sehe meinen Vater, der vor gut einem Jahr starb, wie er kalt und mit wachsweißer Haut im Sarg vor mir liegt. Wir haben über so viele Dinge nicht gesprochen, haben so vieles nicht gesagt, was unbedingt hätte gesagt werden müssen. Zu spät. Meine Seele krampft sich zusammen und ich spüre den Verlust des Mannes, der mir das Leben geschenkt hat. Verzweiflung und Traurigkeit stemmen sich mir entgegen, ich halte beidem das Herzensgebet entgegen. „Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Nur langsam kehrt die Ruhe in mir zurück. Weitere Bilder und Gedanken wirbeln in mir auf wie trübes Wasser. Ich wehre mich. Einatmen. Ausatmen. Ein, aus, „Jesus Christus, erbarme dich meiner“.

Mein Blick fällt auf die Skulptur, die angestrahlt hinter dem Altar steht, ich gehe hin und schaue sie mir genauer an. Jesus sitzt da und hat einen Jungen an seiner Seite. Die eine Hand des Jungen ruht in der von Jesus, die andere Hand des Gottessohnes liegt beruhigend auf der Schulter des Burschen. Die Augen Jesu sind geöffnet, schauen traurig auf den Jungen. So scheint mir. Die des Burschen dagegen sind geschlossen. Vertrauensvoll vielleicht. Oder weil er den Schmerz in den Augen seines Herrn nicht sehen mag. Nicht ertragen kann. Ich frage mich, wie Jesus wohl auf mich schaut und habe keine Mühe mir vorzustellen, dass er oft verzweifelt ist. Ich bin nicht besonders geschickt darin, seine Lebensanweisungen zu befolgen. „Jesus Christus, erbarme dich meiner“.

Ich will ein Wort von Gott

Ich bitte Gott, mit mir zu reden. Mir zu sagen, was er denkt, mich spüren zu lassen, was ihm gerade wichtig für mich ist. Möchte, dass er mir ein Wort gibt. Höre in mich hinein, lasse meine Gedanken wild wehen und stelle mich ihnen nicht in den Weg. „Sprich Gott“, bitte ich still. „Sprich mit mir“. Meine Frau erscheint vor meinem inneren Auge, die, der ich so oft nicht gerecht werde als Mann. Auf der Fahrt heute früh hörte ich im Radio, dass Paare, die schon lange zusammen sind, im Durchschnitt sieben Minuten pro Tag miteinander reden. Vielleicht bringen wir’s ja wenigstens auf mehr als diesen traurigen Durchschnitt. Aber ich ahne, dass ich nicht der Mann bin, den sie verdient hätte. Gedankenattacken. Wegziehversuche. Ablenkungsmanöver. „Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Immer und immer wieder atme ich diese Formel ein und aus und lasse mir die Ruhe zurückgeben. Es funktioniert, Gott ist da, steht neben mir, legt mir seine Hand auf die Schulter – wie dem Jungen an der Seite Jesus.

Dann fließen Worte Gottes durch meinen Geist. Eins nach dem anderen. Worte, die davon sprechen, dass Gott, der Vater, selbst auf die Spatzen1 achtet und für sie sorgt, also doch ganz sicher auch für die Menschen, die ihn lieben, da sein wird. Sie sind mehr wert als Vögel. Ich höre Jesus sagen: „Kommt her zu mir, wenn ihr euch unter der Last eures Lebens abmüht, ich will euch Ruhe geben.“2 Ob das das Wort ist, um das ich ihn bat? Zu verlockend, weil so schön und tröstlich, aber es fließt weiter. Ich höre, wie Gott sagt, ich soll mir keine Sorgen machen, weil er sich für und um mich sorgt3. Dass ich still sein darf, weil wenn Gott für mich ist, dass nichts und niemand gegen mich sein kann4. Dass ich zufrieden damit sein soll, dass er mir seine Gnade schenkt und ich am Ende nichts mehr brauche als genau das5. Seine Gnade. Ich fühl mich wohl bei dem Gedanken, bin ruhig und sicher wie in einer Burg. Meine Gedanken nehmen schon wieder Reißaus und ich muss sie einfangen.

Und dann sagt er mir, was wichtig ist

Als ich aufstehe und die Kerze auf dem Altar auspusten will, bevor ich die Kellerkapelle verlasse, fällt mein Blick in die aufgeschlagene Bibel auf dem Lesepult. Zwei Verse sind fett gedruckt und springen mir ins Auge. „Wer bis zum Ende durchhält, wird gerettet“6 ist der eine. Der andere ist dieser: „Seid wachsam und jederzeit bereit. Denn ihr wisst nicht, wann euer Herr kommen wird!“7 Mir ist schlagartig klar, dass Gott mir mein Wort gegeben hat. Nicht nur eins, gleich zwei. Aber sie gehören zusammen, bedingen einander. Und ich weiß, was er mir damit sagen will. So sehr ich mich an seiner Güte freue und sie genieße, ist es doch meine Verantwortung, nicht stehen zu bleiben. Nicht aufzugeben, nicht klein beizugeben, nicht dem Leben mit ihm die Güte und Qualität abzusprechen. Wer bis zum Ende durchhält, wird gerettet werden. Ich bin noch nicht am Ende. Also gibt es scheinbar noch die Chance, dass irgendwas oder irgendwer mich von Gott wegzuführen versucht. Aufpassen soll ich, wach sein, behutsam. Und jederzeit damit rechnen, dass das Ende gekommen sein kann. Nicht aus blanker Furcht, sondern in der fröhlichen Position des Erwartenden. Mit der gepackten Tasche in der Hand. Ausgerichtet, vorbereitet, jederzeit. „Jesus Christus, erbarme dich meiner“.

Morgen ist Gott derselbe wie heute

Etwas später mache ich einen Spaziergang durch den liebevoll gepflegten und zauberhaft angelegten Garten des Geländes. Der Nebel des Morgens hat sich längst verzogen und ist strahlendem Sonnenschein gewichen. Zwei Eichhörnchen springen wild und quicklebendig auf einer Wiese herum und schauen in meine Richtung. Ich frage mich, wer beobachtet hier wen? Vögel zwitschern und rufen mir zu, dass das Leben erwacht. Als ich in der Sonne sitze, schaue ich zu, wie eine Ameise zu meinen Füßen rumrennt wie verrückt und irgendetwas tut, aber nicht damit fertig wird. „Jesus Christus, erbarme dich meiner“.

Ich bin ruhig geworden, vielleicht kurz nur, aber wirksam. Es hat mir gut getan, still zu sein, in mich hineinzuhorchen und mich im Licht Gottes zu sehen. Auch wenn ich mich dabei aushalten muss mit all meiner Dummheit und Unzulänglichkeit. Meinem Dickkopf und Eigenwillen. Über dem hinaus darf ich mir die Milde Gottes angedeihen lassen, seinen Rat hören. Dass da noch ein langes Stück Weg vor mir liegt, hat er mir gesagt. Und wenn ich das mit ihm gemeinsam gehe und bis zum Ende durchhalte, dann wird mich das ganz sicher direkt in seine Gegenwart führen. Einatmen. Ausatmen. Ein, aus, ein, aus. Morgen ist ein neuer Tag. Mit seiner ganz eigenen Last und Mühe. Morgen ist Gott derselbe wie heute. „Jesus Christus, erbarme dich meiner.“