Die leise Stimme der Rechtlosen

Pranitha Timothy befreit Sklaven in Indien

Sie ist eine kleine, zierliche Frau mit einer leisen, brüchigen Stimme: Pranitha Timothy. Niemand würde ahnen, dass sie mit dieser Stimme vor Gericht mutig und entschlossen gegen Sklavenhalter und Zuhälter aussagt und für die Rechte der Armen kämpft. Gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation „International Justice Mission“ hat die Inderin ein Ziel: So vielen Menschen wie möglich die Freiheit zurückzuschenken. Denn noch immer leben weltweit rund 29 Millionen Menschen als Sklaven – mehr als je zuvor in der Geschichte. Besonders ernst ist die Lage in Pranithas Heimat: Indien.

Mit einem gewinnenden Lächeln erzählt die 39-Jährige ihre ganz persönliche „Vom-Saulus-zum-Paulus“-Geschichte: Ihr Name – Pranitha – bedeutet „Lebensgeber“ und ist vielleicht der erste Fingerabdruck Gottes in ihrem Leben. Doch als Kind schwört sie sich, niemals Christin zu werden. Sie ist wütend auf Gott, weil sie gezwungen ist, getrennt von ihren Eltern, die als Missions-Ärzte arbeiten, in einem Internat aufzuwachsen. Das Mädchen fühlt sich wertlos und zurückgewiesen. In ihrem Zorn verschließt sie sich gegenüber jeglichen Gefühlen und ist sehr rebellisch. Von ihren Mitschülern wird sie bald nur noch „KK“ genannt: kalt und kalkulierend. Schließlich muss sie sogar das College verlassen, weil ein Mädchen wegen ihr in die Psychiatrie eingewiesen wird.

Doch dann kommt es zur Wende: „Irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, wo selbst ich das hasste, was ich geworden war. Ich hatte das Gefühl, aus mir könne nichts Gutes kommen. In meiner Kälte und Zerbrochenheit wurde mir bewusst, dass ich nur noch eine Hoffnung habe: die Vergebung durch Jesus Christus. Dieser Jesus, den ich zurückgewiesen hatte und dem ich nicht nachfolgen wollte. Denn er ist der Einzige, der sagt: ,Komm, so wie du bist.‘ Ich wusste, dass ich seine Kraft brauchte, um die Dunkelheit zu überwinden, die mein ganzes Leben eingeschlossen hatte“, erklärt Timothy. Sie nimmt Gottes Liebe an und erlebt das Versprechen Gottes aus dem Buch des Propheten Hesekiel „Ich werde das steinerne Herz aus eurer Brust nehmen und gebe euch ein lebendiges dafür“ an Leib und Seele. Für Pranitha „das größte Wunder meines Lebens“.

Berufung auf Umwegen

Pranitha studiert „Soziale Arbeit“, als sie eines Abends in der Kapelle ihrer Universität sitzt, um Gott zu fragen, was er mit ihrem Leben vorhat. Ganz deutlich spürt sie, dass die Bibelworte, die der Pastor gerade vorliest, die Antwort auf ihre Frage sind: „Ich habe ihm meinen Geist gegeben, damit er den Völkern das Recht bringt. Er wird weder schreien und lärmen, noch seine Stimme auf der Straße hören lassen. (…) Ich, der Herr, habe dich berufen in Gerechtigkeit und dich bei deiner Hand erfasst. Ich beschütze dich und mache dich zu einem Bund für das Volk und zum Licht für die Völker. Dadurch sollst du den Blinden die Augen öffnen, die Häftlinge aus dem Gefängnis befreien, und die in der Dunkelheit Gefangenen ans Licht führen“ (Jesaja 42).

Doch schon bald weicht ihre anfängliche Begeisterung über Gottes klare Berufung Schmerz und Zweifeln: Aus heiterem Himmel trifft Pranitha die Diagnose „Hirntumor“. Durch eine OP kann der Tumor, der sich vom Kopf schon ins Rückenmark gezogen hat, zwar entfernt werden, doch die junge Frau verliert ihre Fähigkeit zu schlucken, ihre Stimme und auch das Gehör auf der rechten Seite. Dennoch hält sie an Gottes Verheißung fest, und beginnt – völlig stumm – mit Kindern von Gefangenen zu arbeiten. Viele von ihnen mussten miterleben, wie ihr Vater ihre Mutter umbrachte. Mit knapp 50 dieser traumatisierten Kinder lebt Timothy zusammen und sorgt für sie.

„Wir wissen, dass unser Gott die Macht hat, alles zu tun.“

Eine Stimme für die Rechtlosen

Doch das Wunder geschieht: Nach zwei Jahren schenkt Gott Pranitha ihre Stimme zurück. Eine ganz leise, brüchige Stimme, die sich beim Sprechen manchmal fast überschlägt. Nachdem Pranitha geheiratet und zu ihrem Mann nach Chennai gezogen ist, erfährt sie von der Arbeit der „International Justice Mission“ (IJM). Die internationale Menschenrechtsorganisation deckt mit Hilfe von Anwälten und Sozialarbeitern Fälle von Menschenrechtsverletzungen auf, befreit Menschen aus Zwangsarbeit und -prostitution und bringt die Täter vor Gericht. In vielen Entwicklungsländern haben Arme keinen Zugang zum Rechtssystem und sind dadurch Gewalt, Ausbeutung und Machtmissbrauch ausgeliefert. Doch nun werden viele Sklavenhalter, die Menschen in Steinbrüchen, Reismühlen, Textilfabriken oder Ziegeleien gefangen halten, erstmals zur Rechenschaft gezogen. In dieser Arbeit erkennt Pranitha Timothy Gottes Berufung. In den zehn Jahren, in denen sie nun schon für IJM arbeitet, hat sie über 50 Befreiungsaktionen geleitet und vor Gericht gegen die Täter ausgesagt. Und immer wieder darf sie dabei erleben, dass Gott Autorität in ihre brüchige Stimme legt und einflussreiche Richter ihr zuhören.

Die traurige Realität

In weiten Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, wo IJM in 14 Ländern Zweigstellen hat, sind viele Familien so arm, dass sie froh sind, wenn eine ihrer Töchter ein Jobangebot bekommt. Sie schicken ihre Mädchen mit Nachbarn oder Bekannten mit, in der Hoffnung, ein wenig Zuverdienst für den Lebensunterhalt der Familie zu bekommen. Leider werden viele dieser Mädchen nicht wie versprochen als Haushaltshilfe eingesetzt, sondern an Zuhälter verkauft. Jahrelang werden sie in dunkle Räume eingepfercht und täglich mehrfach brutal sexuell missbraucht. Mitarbeiter von IJM gehen als verdeckte Ermittler in Bordelle und geben sich dort als Freier aus, um mit versteckten Kameras Beweismaterial zur Überführung der Täter zu sammeln. 90 Prozent der Mitarbeiter sind Staatsangehörige des jeweiligen Landes. Wenn sie genug Material haben, planen sie gemeinsam mit der einheimischen Polizei Befreiungsaktionen, um die Mädchen herauszuholen und an einen sicheren Ort zu bringen.

Schon oft hat Pranitha, die mittlerweile zweifache Mutter ist, sich bei solchen Aktionen in Lebensgefahr begeben, doch Angst hat sie keine: „Gott geht uns voraus an diese Orte der Dunkelheit und ebnet den Weg, damit wir Rettung bringen können. Die wahre Quelle von Mut ist keine wilde Entschlossenheit, sondern die bewusste Entscheidung, mich daran zu erinnern, dass mein Leben Gott gehört.“ Ohne Gott könne sie diese Arbeit nicht tun, betont sie immer wieder. Denn immer noch leidet sie unter den Nachwirkungen des Krebses. Doch sie erlebt, dass Gott gerade in ihrer Schwäche stark ist.

Die Teilung des „Roten Meeres“

Nachdem sie eines Tages mit ihrem Team einige Familien aus einer Ziegelei befreit hat, erwartet das Team eine wütende Meute von mehreren hundert Menschen. Mit Nägeln wollen sie die Autoreifen zerstechen. Sie haben auch Benzin dabei, um die Mitarbeiter von IJM bei lebendigem Leib zu verbrennen. Nur vier Polizisten sind da, um das Team, das auf mehrere Autos verteilt ist, zu schützen. Die Menge schlägt Scheiben ein und versucht, die Frauen an den Haaren aus den Autos zu zerren. Einige von ihnen sind starr vor Angst oder weinen leise. Pranitha Timothy ist sich sicher, dass sie ihre Familie nicht mehr wiedersehen wird, doch sie betet laut zu Gott, um sich und den anderen Mut zu machen: „Ich habe zu demselben Gott um ein Wunder geschrien, der das Rote Meer geteilt hat. Genauso konnte er diese Menschenmenge teilen.“ Schon seit vielen Stunden sitzt das Team inmitten der wütenden Menge fest. Doch dann wird es Nacht und mit einem Mal bildet sich tatsächlich eine kleine Schneise in der Menge, durch die die Autos, eines nach dem anderen, hindurchfahren können: „Ich habe erlebt, wie Gott bei uns war, uns beschützt und herausgeführt hat. So vieles hätte passieren können, doch wir blieben alle am Leben.“ Auch ihr Mann habe ein tiefes Vertrauen in Gott und keine Angst um sie, erklärt die Inderin, „anders würde es gar nicht gehen“.

Ein langer Weg

Pranitha Timothy ist auch verantwortlich für die Nachsorge der ehemaligen Sklaven. Über Jahre hinweg begleiten sie und ihr Team Menschen dabei, sich in ihre Dorfgemeinschaften zu integrieren, ihre Traumata zu überwinden und einen Plan für ihr Leben zu entwickeln. Oft müssen sie auch ganz selbstverständliche Dinge – zum Beispiel das Empfinden und Ausdrücken von Gefühlen – ganz neu erlernen, weil es ihnen in der Gefangenschaft untersagt war. Kinder, die ihr Leben lang nur harte Arbeit kennengelernt haben, besuchen nun die Schule.

Doch der Weg in die Freiheit ist nicht immer eben. Manche überwinden ihre Traumata schnell und werden sogar zu Leitern ihrer Gemeinschaften. Bei anderen wiederum muss das Team auch Rückschritte erleben: Mädchen laufen aus Waisenheimen davon und geraten erneut an die falschen Menschen. Andere erliegen ihren schweren Krankheiten oder nehmen sich das Leben. Doch die Regel von IJM heißt: „Es spielt keine Rolle, wo sie sind. Treffen sie die falschen Entscheidungen, werden wir sie trotzdem begleiten. Treffen sie die richtigen, bleiben wir auch bei ihnen.“

Die Mitarbeiter von IJM sprechen ganz bewusst nicht von ihrem christlichen Glauben – doch immer wieder kommt es vor, dass ehemalige Gefangene ihnen erzählen, sie hätten zu Gott gebetet und ein paar Tage später sei IJM gekommen und habe sie befreit. Oder sie fragen Pranitha Timothy und ihr Team, ob sie Christen sind und finden dadurch zu Gott. „Der Glaube daran, dass Gott gut ist, ist die Grundlage für all unsere Rettungseinsätze“, erklärt die 39-Jährige. „Er gibt uns die Hoffnung, die es uns ermöglicht, Menschen zu retten, auch wenn manche noch damit kämpfen müssen, diese Freiheit wirklich anzunehmen. Es ist diese Hoffnung, die uns fähig macht zu glauben, dass Gott selbst die hoffnungslosesten Fälle verändern kann. Wir wissen, dass unser Gott die Macht hat, alles zu tun.“