Nicht weniger als alles
Essay
Es riecht förmlich nach Herausforderung. Ein Mensch stellt Jesus eine Frage, und es ist ziemlich klar, dass er auf die Antwort des Rabbis nicht so richtig vorbereitet war. Aber nun hat er den Salat. Besser also gar nicht erst fragen? Doch, meint Christoph Zehendner, denn wir haben noch sehr viel zu lernen.
Gestatten Sie eine Frage, so ganz unter uns? Sind Sie eigentlich reich? – Nein, ich will Ihre Antwort gar nicht wissen, die ist nur für Sie selbst wichtig. Ich gehe aber davon aus, dass die Antwort auf diese Frage im Wesentlichen von der Perspektive abhängt: Mit wem vergleiche ich mich? Vergleiche ich mich mit einem Ölscheich, mit der Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling (der reichsten Frau Großbritanniens) oder mit Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg, dann bin ich finanziell gesehen höchstens ein armes Würstchen. Vergleiche ich mich dagegen mit Menschen, die in Afghanistan, Nepal oder Kambodscha ums Überleben kämpfen, dann bin ich reich, sehr reich sogar. Denn in Deutschland verdienen Menschen im Schnitt mehr als 50.000 Euro pro Jahr, in diesen drei Ländern hingegen nicht einmal 1.400 Euro. Schon dieser statistische Wert macht deutlich, wer reich ist und wer nicht.
Weißt du, was du brauchst?
Ich habe keine Ahnung, wie hoch das Einkommen des reichen Mannes war, der sich eines Tages (in Lukas 18) an Jesus wendet und von ihm wissen will, wie er ewiges Leben bekommen könnte. Ich vermute aber, wir wären froh, wenn sich dieser erfolgreiche Jungunternehmer unserer Gemeinde anschließen würde. Stellen Sie sich nur vor: Der könnte kräftig spenden, wäre dabei voller guter Umgangsformen, fromm und anständig. Ein Vorzeigechrist erster Güte also. Den sollten wir am besten gleich in die Gemeindeleitung wählen. Jesus aber scheint nicht so begeistert zu sein von diesem reichen Mann. Jesus könnte ihn ja zu einer Glaubenskonferenz schicken, einem Stille-Seminar oder nach Taizé.
„Doch Jesus schockiert den armen reichen Mann.“
Doch Jesus schockiert den armen reichen Mann. Er schockiert mit seiner Radikalität auch uns reiche Menschen in den übersatten Staaten der Erde: Du brauchst nicht ein bisschen mehr Gesetzlichkeit oder ein paar mehr fromme Sprüche, macht Jesus deutlich. Wenn es dir wirklich ernst ist mit mir, wenn du wirklich das Leben erleben willst, das ich dir schenken will – dann musst du alles geben. Das, was dir am wichtigsten ist. Das, was dir am meisten weh tut. Das, woran dein Herz hängt.
Eins, zwei oder drei
Hätte Jesus dem Mann gesagt: „Schick 50 Euro an Sozialwerk X oder Missionsgesellschaft Y“ – er hätte liebend gerne 100 oder 200 geschickt. Hätte Jesus gesagt: „Bitte unterstütze die notleidende Kirche im Sudan mit einer Spende“ – er hätte sofort sein Scheckbuch gezückt. Aber alles, alles, wirklich alles? Der reiche Mann hört es und trifft seine Entscheidung. Nein, so viel ist er nicht bereit zu investieren. Traurig geht er davon. Ich sehe ihm nachdenklich hinterher. Und erinnere mich an meine Krankenversicherung. Mein Bankkonto. Meinen Rentenanspruch. Mein (geleastes) Auto. Meine geplante Urlaubsreise. Und all die anderen materiellen Dinge, die ich mir leisten kann. Jesus redet Klartext: Gott kann nicht auf Platz zwei oder drei sein Dasein fristen, hinter deinem Geld, hinter deiner Familie, hinter deinem Hobby, hinter deinem Beruf. Er sagt diesem Mann auf den Kopf zu, was das Problem ist: „Platz eins in deinem Leben hat der Besitz.“ Mit dieser Lebenshaltung ist der Mann nicht allein. Im Neuen wie auch im Alten Testament wird an vielen Stellen deutlich, wie gefährlich es sein kann, viel zu haben. Die Reichen kommen meistens ziemlich schlecht weg, bei den Propheten und bei Jesus selbst. Denn viele dieser reichen Menschen haben ihr ganzes Leben letztlich auf ein Ziel hin ausgerichtet: Geld. Und noch mehr Geld. Aber solch ein Lebensziel, solch eine Lebensmitte, solch eine oberste Priorität ist lebensgefährlich, warnen uns viele Stimmen in der Bibel. Und Martin Luther beobachtet: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.
Mit Liebe im Blick
Noch mal ganz unter uns: Woran hängt denn mein Herz, wenn ich ganz ehrlich bin? Welcher Gott, welcher Mensch, welcher Besitz, welche Gabe, welches Potenzial ist mir wichtiger als alles andere? Bin ich bereit, alles dranzugeben und mit Jesus zu gehen, mich von ihm losschicken zu lassen? Bin ich bereit dazu, Gott den Platz in meinem Leben einzuräumen, der ihm gebührt – heute und jeden Tag neu? Das geht eigentlich gar nicht, sagt Jesus. Und spricht damit noch einmal Klartext. „Ihr kriegt das nicht hin.“ Bei den Menschen ist es völlig unmöglich. Aber Gott ist – Gott sei Dank – unbegrenzt in seiner Liebe zu uns. Was menschlich unmöglich ist, macht er möglich. Jesus sagt klipp und klar, wie die Prioritäten in unserem Leben sein sollten. Er will, dass wir Gott ernst nehmen und ihm höchste Priorität einräumen. Und doch kennt er unsere Schwächen, unsere fehlende Konsequenz, unsere Begrenztheit. Und deswegen macht er das Unmögliche möglich. Weil ein Kamel sich nun mal nicht durch ein enges Nadelöhr zwängen kann. Und warum schockiert Jesus uns dann so mit dieser Szene? Der Evangelist Markus hat bei dieser Begegnung sehr genau hingesehen und deshalb den entscheidenden Satz ergänzt (Markus 10,21): „Jesus sah den reichen Mann an und gewann ihn lieb“. Jesu Worte haben also nichts mit Rache zu tun oder mit Zorn. Mit Augen voller Liebe sieht er, was dieser reiche Mann braucht – und dann spricht er es aus. Aus Liebe. Liebevoll hat er ihn im Blick und will ihm den Weg zu einem gelingenden Leben aufzeigen. Liebevoll hat Jesus uns im Blick und will das Beste für uns – ein Leben in Gemeinschaft mit ihm. Wir, die wir noch viel zu lernen haben über die Rangfolge der Lebensbereiche und über den Platz 1, der Gott allein zusteht. Der findige Unternehmer Henry Ford soll einmal gesagt haben: „Ein Unternehmen, das nur Geld verdient, ist ein armes Unternehmen.“ Ich wandle seine Weisheit ab und ergänze: „Ein Mensch, der nur Geld hat, kann ganz schön arm sein.“ Lassen Sie uns danach streben, herauszufinden, was wirklich reich macht. Was wirklich erfüllt, beglückt. Was Sinn, Tiefgang und Orientierung gibt. All das nämlich bezeichnet die Heilige Schrift als „ewiges Leben“.
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