Mehr als ich dachte

Impuls

Den kennen alle: „Lass dir an meiner Gnade genügen.“ Aber wer versteht schon, was das heißt? Hans-Georg Wünch jedenfalls hatte davon zunächst ein Konzept im Sinn, das er neu definieren musste, weil es dem Leben nicht gerecht wurde. Oder der Begrenztheit menschlichen Denkens. Was bei seiner Recherche herauskam, zeigt eine Dimension, die er selbst nicht für möglich hielt.

Eigentlich ist es mir klar, seit ich Christ geworden bin: Das Entscheidende in meinem Leben ist die Gnade Gottes. Diese Gnade veranlasste Jesus damals, auf die Erde zu kommen, um für die Sünde der Menschen (und damit auch für meine) zu sterben. Diese Gnade war es auch, die mir all meine Schuld vergab, als ich mich entschlossen hatte, ganz mit ihm zu leben. Aber nun ging es ja darum, dass ich dieser Gnade auch gerecht werde. Mein Leben musste dieser Gnade entsprechen. Und das war gar nicht so leicht. Man musste regelmäßig in der Bibel lesen und beten, in die Gemeinde gehen, Menschen von Jesus erzählen und vieles andere. Ganz zu schweigen von dem Verhalten, das Gott entsprechen sollte. Immer wieder gelang es mir nicht, so zu leben, wie Gott das wollte. Heute bin ich überzeugt, dass mir damals im Grunde nicht klar war, was Gnade eigentlich alles umfasst. Ich verstand sie als etwas, das Gott mir am Anfang meines Lebens als Christ geschenkt hatte und was er mir auch immer wieder erwies, wenn ich nicht so gelebt hatte, wie ich das sollte. Wenn ich versagt hatte. Mein Leben war ein ständiges Auf und Ab. Immer wieder stellte ich fest, dass ich dem, wie das Leben als begnadigter Christ doch eigentlich aussehen müsste, nicht entsprach. Ich bin überzeugt, dass es vielen – vielleicht den meisten – Christen so geht wie mir damals. Wir glauben, dass Gottes Gnade für die Vergebung unserer Schuld reicht. Aber reicht sie auch für unser Leben als Christ? Und zwar nicht nur immer wieder, wenn wir nicht so gelebt haben, wie wir sollten, sondern für mehr? Reicht Gnade auch für unseren Alltag, für unser Leben als Christ?

Gerettet und gerecht

Das Neue Testament ist da völlig eindeutig: Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade (Römer 3,24). Ich könnte viele weitere Stellen anführen, in denen das betont wird. Nur weil Gott sich uns unverdient zugewandt hat, indem er seinen Sohn Jesus Christus geschickt hat, um für unsere Schuld und Sünde zu sterben, können wir gerettet werden (Johannes 3,16). Unsere Gerechtigkeit kommt aus Gnade (Römer 4,16; vgl. auch Epheser 2,8; Titus 3,7). Niemand kann sich diese Gerechtigkeit in den Augen Gottes verdienen. Das Einzige, was wir wirklich verdienen, ist das Gericht Gottes, der Tod (Römer 6,23). Vergebung und Gerechtigkeit sind daher immer unverdiente Geschenke Gottes. Aber – und das ist vielen Christen nicht bewusst – Gnade ist nicht nur ein Begrüßungsgeschenk Gottes, sie ist das wesentliche Lebenselement, ohne das wir umkommen!

„Wir glauben, dass Gottes Gnade für die Vergebung unserer Schuld reicht. Aber reicht sie auch für unser Leben als Christ?“

Stehen und Leben

Paulus beendet jeden seiner Briefe damit, dass er den Empfängern zuspricht: „Die Gnade Gottes sei mit euch.“ Wenn Gnade das ist, was Christen am Anfang ihres Lebens empfangen und worin sie nun ihr Leben führen dürfen, ist so ein Wunsch eigentlich seltsam. Meint Paulus damit, dass sie immer wieder neu auf Gottes Gnade angewiesen sind, dann, wenn sie als Christen sündigen? Und für diese Situationen wünscht er ihnen nun, dass Gott ihnen seine Gnade immer wieder erweist? Das Neue Testament versteht Gnade viel umfassender. Paulus spricht von der „Gnade, in der wir stehen“ (Römer 5,2), und betont: „durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1. Korinther 15,10). Und dann fährt er fort, dass es diese Gnade gewesen ist, die ihn dazu gebracht hat, sich mit allem, was er hat und ist, für Gott einzusetzen. Aber eben nicht, um sich der Gnade Gottes irgendwie würdig zu erweisen oder sie sicherzustellen. Nein, das hat er getan, wegen „Gottes Gnade, die in mir ist“ (1. Korinther 15,10). In dieser Gnade führt Paulus sein ganzes Leben (2. Korinther 1,12). Timotheus wünscht er, dass er stark sei durch die Gnade Gottes (2. Timotheus 2,1). Und auch der Schreiber des Hebräerbriefes betont, dass es die Gnade ist, die unser Herz fest machen kann in Gott (Hebräer 13,9).

Gnade ist also nicht nur das, was uns am Anfang unseres geistlichen Lebens begegnet und dann immer wieder punktuell, wenn wir gesündigt haben. Gnade ist das Lebenselixier eines Christen. Wir leben in der Gnade! Und was bedeutet das konkret? Es heißt, dass Gott uns immer gnädig ist. Wenn er uns ansieht, sieht er eben nicht unsere Unzulänglichkeiten und unser schuldhaftes Verhalten. Er sieht Jesus und seine Gerechtigkeit, die uns durch seine Gnade ein für alle Mal zugesprochen worden ist. Wir sind durch Jesus zu der Gerechtigkeit geworden, die vor Gott gilt (2. Korinther 5,21). Je mehr wir in diesem Bewusstsein leben, umso mehr wird sich auch unser Leben verändern und sich darin widerspiegeln, was Gnade ist: dass Gott uns absolut und umfassend vergeben hat und auf unserer Seite steht, weil uns die Gerechtigkeit von Jesus zugesprochen worden ist!

Gnade und genug

Paulus hatte offensichtlich eine körperliche Schwachheit, eine Krankheit, die ihm sehr zu schaffen machte. In 2. Korinther 12 erfahren wir zwar davon, es wird aber nicht klar, um was genau es geht. Doch diese Krankheit behinderte ihn in seinem Dienst ganz ungemein. Deshalb hatte er Gott mehrfach darum gebeten, ihn zu heilen. Aber Gott tat es nicht. Stattdessen sagte er zu Paulus: „Lass dir an meiner Gnade genügen.“ (2. Korinther 12,9) Mehr brauchst du nicht. Paulus war bis dahin der Ansicht gewesen, dass er noch viel mehr für Jesus hätte tun und erreichen können, wenn er von dieser lästigen Sache geheilt worden wäre. Gott ist da anderer Ansicht. Denn es ist nicht die Leistung von Paulus, die entscheidend ist, sondern Gottes Kraft. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, heißt es da. Wörtlich könnte man übersetzen: „Meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung“. Gerade dadurch, dass Paulus schwach war, wurde deutlich, dass Gott stark ist! Denn Paulus hätte das nicht schaffen können, was Gott durch ihn getan hat. Die Gnade genügt. Sie genügt für die Vergebung und Errettung. Und sie genügt für unser ganzes Leben als Christ. So dass wir mit Paulus sagen können: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“