Ich lernte zu leben

Persönlich

Es sind immer wieder besondere Momente, wenn Menschen ihre Seele auftun. Wenn sie Licht erlauben, da, wo Dunkelheit auch Schutz bedeutet. Wenn sie aushalten, dass man hinschaut. Die Blicke der anderen. Wenn sie sich selbst ertragen. Das Leben hat Melanie Niehaus viel abverlangt, zu viel vielleicht. War das, was sie gab, genug?

Neuntausend Zeichen inklusive Leerzeichen. Zu mir als alleinerziehender Mutter mit allem Drum und Dran. Rückblickend, persönlich, mutmachend. Ob ich dazu etwas schreiben könne, lautet die Frage. Relativ unmittelbar stellte sich ein ungenügendes und bedrückendes Gefühl ein. Auch Scham und Schuld und Schmerz. Und Angst. Ich möchte doch ehrlich sein, wenn ich erzähle. Von den Höhen und den Tiefen und dem dazwischen. Ich denke über Angreifbarkeit und Entblößung nach, den Schutz meiner Familie, meiner selbst. Es ginge mir wirklich besser ohne diesen Artikel. Doch meine Kinder sagen: „Mach das, Mama.“ Also machte ich das.

Wenn ich aufwache

Es ist nun 21 Jahre her, dass ich auf dem Beifahrersitz eines Transporters neben dem Mann meiner besten Freundin Kerstin Platz genommen habe. Wir sind auf dem Weg nach Dänemark, ihrem Zuhause und für das kommende Jahr auch unserem Zuhause. Hab und Gut passen zu diesem Zeitpunkt noch in einen kleinen Anhänger. Das Kostbarste befindet sich jedoch im Kindersitz auf der Rückbank, acht Monate, und in meinem Bauch, drei Monate alt. Meine Töchter. Schweren Herzens habe ich beschlossen, den Weg ohne Partner weiterzugehen. Es gab Gründe, die keine andere Möglichkeit zuließen. Ich werde für viele Jahre allein bleiben. Immer wieder denke ich: „Vielleicht ist es nur ein schlechter Traum. Und wenn ich aufwache, dann …“ – ist alles gut?

In Dänemark ist alles anders

Mein Leben ist bislang fast immer, nun, sagen wir, kompliziert gewesen. Aber nun habe ich die volle Verantwortung nicht nur für mich allein, sondern für ein zweites und bald ein drittes Leben zu tragen. Nicht einfach, nicht witzig. Und, schelte ich mich: Das war ja klar. Wie konnte ich denn erwarten, dass gerade mir Familie gelingen sollte? Kurz zuvor habe ich mein Medizinstudium abgeschlossen, bin nun Arzt im Praktikum, ein AiP. Zu jener Zeit ist eine Familie mit dem zu erwartenden Gehalt – insbesondere alleinstehend – kaum zu versorgen. Erwartete Mehrarbeit, geforderte Nachtdienste und Kinder, wie sollte das gehen? Ärztemangel ist zu diesem Zeitpunkt kein Thema in Deutschland. All dies ist in Dänemark anders. Da, wo Kerstin wohnt. Und so beschließe ich, uns dort eine neue Existenz aufzubauen. Das heißt erstens: Dänisch lernen (in Flensburg, verflixte Sprache). Zweitens: Kind bekommen (im Wasser, mit Freundin, alles geht gut). Drittens: Stelle als Assistenzarzt suchen (dort gibt es keinen AiP, aber Ärztemangel, man freut sich auf mich). Viertens: Tagesmutter finden. Fünftens: Wohnung mieten. Ich komme nur bis zum dritten Punkt.

„Und, schelte ich mich: Das war ja klar. Wie konnte ich denn erwarten, dass gerade mir Familie gelingen sollte?“

Erstaunliche Veränderungen

Als mir das Krankenhaus in Sønderborg den Arbeitsvertrag zusendet, bringe ich meine ältere Tochter zum wiederholten Mal als Notfall in eine Klinik, das Baby im Schlepptau. Vor allem emotional werde ich an meine Grenzen geführt, fühle mich fremd in der Sprache, fremd in dem Land, mache mir Sorgen. So entscheide ich, nach Deutschland zurückzukehren. Ich trete eine Stelle als Assistenzärztin an einem Tag an, an dem punktgenau auch in Deutschland der AiP abgeschafft wird! Ein beginnender Ärztemangel zeichnet sich ab. Tatsächlich kann ich nun mich und die Kinder mit dem Gehalt versorgen. Mein Chef macht sich für einen Platz in der Kindertagesstätte stark. Durch einen Unglücksfall in einer von mir bereits angemieteten Wohnung gebe ich diese auf, finde daraufhin eine viel passendere, die uns in den kommenden Jahren ein schönes Zuhause bietet. Während ich um das so Alltägliche ringe, geschehen um mich herum Veränderungen, auch gesellschaftspolitische Veränderungen, die ich zuvor nicht einmal in Erwägung gezogen hätte, die mir Türen öffnen, das Leben leichter machen. Wie erstaunlich!

So viel Unterstützung

Meine Kinder wachsen mit der Unterstützung vieler auf. Diese Unterstützung besteht in Liebe und Zuwendung, Zeit und Verlässlichkeit, besonderem Engagement und Selbstlosigkeit, Freude und Wertschätzung. Sie geschieht insbesondere durch die Großmutter, aber auch durch Freunde und deren Familien, Nachbarn, Gemeindeangehörige, Ärzte, Lehrer und Klassengemeinschaften, Erzieher im Kindergarten, Gleichaltrige, Musiklehrer und viele mehr. Bereits früh vertraue ich meine Töchter anderen Menschen, Familien und „Systemen“ an: ausgewählt und mit Bedacht, in froher Dankbarkeit und Demut, im hoffenden Gebet, auch notgedrungen und zwangsläufig. Wir lernen Loslassen anstelle von Festhalten, erleben Vielfalt statt Enge, leben im Jetzt und nicht in weiter Vorausschau, sind froh um das Kleine, das für uns groß wird. Meine Kinder sind neugierig, aufgeschlossen, zugewandt: Sie haben viel zu geben und erhalten viel zurück.

„Wir lernen Loslassen anstelle von Festhalten, erleben Vielfalt statt Enge, leben im Jetzt und nicht in weiter Vorausschau, sind froh um das Kleine, das für uns groß wird.“

Nicht viel Leichtigkeit

Ich bin in der dritten Generation alleinerziehend. Meine Großmutter verlor durch Hunger, Krieg und Flucht den Ehemann und beide Söhne. Nur sie und meine Mutter überlebten. Der Weg führte sie aus der jetzigen Ukraine über Deutschland nach Paraguay. Dort erbauten sie mit anderen Frauen, ebenfalls Witwen mit ihren Kindern, ein Dorf: Friedensheim. Männer: eine Rarität. Emanzipation: Alltag. Traum und Trauma: nah beieinander. Nach zwanzig Jahren zog es sie zurück nach Deutschland. Eine dort geschlossene Ehe gelang nicht. Und so wuchs ich mit Mutter und Großmutter allein auf. Ängste und Sorgen, Wut und tiefe Traurigkeit, große Anstrengungen, Verzicht und Überforderung, aber vor allem Sprachlosigkeit wohnten bei uns. Unbeschwertheit und Leichtigkeit, Freude und Ausgelassenheit waren eher seltene Gäste. Aber: An die Besuche gerade dieser seltenen Gäste erinnere ich mich bis heute umso mehr und dankbarer. Und tiefer Glaube hielt alles zusammen.

Auf der Suche nach mir selbst

Mit 16 Jahren habe ich mein Zuhause verlassen und ging verschiedenste Wege, die mich zuletzt in ein Jugendwohnheim führten. Auf der Suche nach Ruhe und Beständigkeit, nach Sicherheit und Regeln, die für alle gleichermaßen galten. Auf der Suche nach mir selbst beziehungsweise nach dem, was ich sein könnte. Ich konnte nicht mehr. Verlustangst und Festhalten hatten daheim zu immer schwierigeren Situationen geführt. Wie sehr dies auch mit den Kriegserlebnissen zusammenhing, ahnte ich zwar, begriff es aber erst später. Damals wollte ich einfach nur aus der Dunkelheit ans Licht, aus der Enge in die Weite. Atmen. Leben. Alle Jugendlichen, die in diesem Heim ankamen, hatten bereits einen langen Weg hinter sich. Den Schritt aus der Familie hatten wir alle gewagt, und der ist selbst bei schwierigsten Verhältnissen nicht einfach und erfordert viel Mut. Im Heim fanden wir Unterstützung bei der Bewältigung dieser schweren Lebenssituationen, man kümmerte sich um Stärkung und Festigung, um ein Fitmachen für die Anforderungen des Alltags. Ich lernte Kochen und Putzen, fuhr zum ersten Mal in den Urlaub, bekam Taschengeld. Ich erhielt eine besondere Begleitung, fühlte mich zunehmend gesehen und gehört. Man schenkte mir Vertrauen und traute mir etwas zu. Ich lernte zu leben, zu fallen und aufzustehen, Fehler zu machen und Lösungen zu finden. Die Angebote waren für alle Jugendlichen gleich. Sie tatsächlich anzunehmen und das Beste daraus zu machen, fiel aber vielen schwer. Oft habe ich gedacht, dass mich das Übermaß an Liebe und Fürsorge, das ich im Vorfeld in meiner Familie erfahren hatte, in besonderer Weise befähigte und schützte, mir eine Ressource war. Mit 18 Jahren war ich alltagstauglich, zog aus, machte Abitur und eine Ausbildung. In diesen Jahren schloss ich eine Freundschaft, die bis jetzt anhält: Kerstin. Sie war mein Grund, in die Schule zu gehen. Ihre Familie wurde für mich zu einer zweiten Familie.

Ich habe es mir so gewünscht

Die kommende Fallhöhe war beträchtlich. Mit den Jahren war ich müde geworden, hatte mich im Alltag zwischen Selbstständigkeit, Haushalt und Kindern zunehmend verausgabt und erschöpft. Ein Alltag, der auch den Kindern immer mehr abverlangte. Ich wünschte mir so sehr ein Gegenüber, an dessen Schulter ich meinen Kopf anlehnen könnte, um auszuruhen. Wir würden uns gegenseitig stützen, den Kindern eine Familie bieten, das hoffte und glaubte ich fest. Trotz all dieser Wünsche zerbrach die Ehe, die ich geschlossen hatte, schon nach kurzer Zeit. Und nicht nur das. Jeder Bereich meines Lebens geriet plötzlich ins Wanken. Die Säulen, die mein Leben trugen, wurden erschüttert: Gemeinde, Familie, Gesundheit, Arbeit, Wohnen. Ich erinnere mich an Nächte auf der Intensivstation, in denen ich nur in Grautönen, in Schwarzweiß träumte. Jegliche Farbe war gewichen. Ich fürchtete mich, war fassungslos beim Anblick des Scherbenhaufens, der mich umgab. Und neugierig: Was hatte Gott in all dem vor?

Wertvoller als vorher

Kintsugi ist eine alte japanische Handwerkskunst und bedeutet „goldenes Zusammensetzen“. Zerbrochene Keramik wird in einem aufwändigen Prozess mit Lack zusammengefügt. Dieser muss aushärten, Unregelmäßigkeiten werden abgeschliffen, neue Lackschichten aufgetragen. Zuletzt werden die Bruchlinien sorgfältig mit Pudergold bedeckt. So entsteht ein neues und sogar wertvolleres Ganzes, dessen Bruchstellen nun besondere Festigkeit besitzen, die durch das Gold in ihrer Einzigartigkeit und Schönheit hervorgehoben werden. Ich fühlte mich wie ebendiese Keramik. Zerbrochen. Aber ich wurde aufgesammelt, mitgenommen, gesäubert, zusammengefügt. Von Händen, die sorgsam mit mir umgehen, die den Platz einer jeden Scherbe kennen. Einige Bruchstellen benötigen Verstärkung. Ich bin zwar nicht fertig, aber funktionstüchtig. Mit Bruchlinien, die die Gegenwart mit Vergangenem und Zukünftigem verbinden, bestehend aus Vergebung, Gottvertrauen und Sprache, die auch schweigen und zuhören kann. Mittlerweile fühle ich mich bunt mit goldenen Linien. Die zusammengefügte Schale fängt auf: mehr als genug. Leben. Im Überfluss. Danke!