Ich habe genug gelebt
Leitartikel
Das kleine Wörtchen „genug“ kann einen bisweilen in den Wahnsinn treiben. Dann vor allem, wenn man es nicht zu fassen kriegt, wenn man sich windet und dreht und müht und irgendwie nicht auf den Punkt kommt. Wenn sich „genug“ nicht in Worte fassen lässt, wenn die Gefahr groß ist, falsch verstanden zu werden. Detlef Eigenbrodt hat es dennoch probiert.
Neulich saß ich auf meinem Balkon in der Sonne und machte mir Gedanken darüber, was ich eigentlich noch vom Leben erwarte. Oder andersherum gefragt: Ist das, was ich bekam, nicht längst genug? Genug in dem Sinn, dass ich sagen möchte, wunschlos glücklich zu sein? Dass mir nichts fehlt? Dass ich alles habe, dass mein Leben erfüllt war und ist und ich im Grunde zufriedenen Herzens abtreten könnte in dem Wissen, genug gelebt zu haben? Hab ich so genug gelebt, dass ich rundum satt bin? Was manche furchtsam für lebensmüde oder leicht suizidal halten könnten – und damit ganz sicher fehlinterpretieren würden – ist mir enorm wichtig zu bedenken, liegt doch nur in der aufrichtigen Antwort der Schlüssel zu einem fröhlichen Leben.
Mamas Eintöpfe
Als Kind und Jugendlicher lebte ich in einem überschaubar großen Dorf am Rande des Hochsauerlandes, die Schule war zu Fuß gut zu erreichen, jedenfalls für die von uns, die die Hauptschule besuchten. Eine Realschule und ein Gymnasium gab es in der nächsten Stadt. Aber die eine hab ich nur von innen gesehen, wenn ich meiner Mutter dort beim Putzen half, die andere lediglich im Zuge eines Kulturabonnements fürs Provinztheater. Mein erstes Auto war ein Renault 6 mit Pistolenschaltung und 34 PS. Hässlich wie die Nacht, das Teil, aber es hat mich dahin gebracht, wohin ich musste. Ich lebte einen Alltag, in dem die Ansprüche sich an den Realitäten orientierten. Das galt auch für die heimische Küche. Da gab es Samstage, an denen nicht nur die ganze Familie am Tisch saß, sondern auch reichlich viele Kumpel und Freunde, und es gab Tage, an denen sich so gut wie niemand sehen ließ. Das waren dann meist die Tage, an denen es Mamas legendäre Eintöpfe gab. Irgendwie hatten wir da nie so viel Hunger. Wir waren fünf Kinder, wir waren eine Arbeiterfamilie, wir gingen nur dann in den Urlaub, wenn irgendein Sozialwerk sich an den Kosten beteiligte. Meine Eltern hatten ein Haus für uns gebaut und mussten hart dafür arbeiten, es abzubezahlen. Ein Sparbuch gab es zwar, aber das lag mit wachsender Staubschicht in der abschließbaren orangefarbenen Metall-Kassette und fristete ein karges Dasein. Als ich 16 Jahre alt war, verließ ich nicht nur die Hauptschule, sondern auch mein Elternhaus und das Dorf, in dem ich groß geworden war. Eine erste wesentliche Etappe meines Lebens war zum Abschluss gekommen. Damals habe ich nicht groß darüber nachgedacht, ob es eine gute Zeit war oder nicht, ich nahm die Dinge, wie sie waren und stellte nicht allzu viele Fragen. Was hätte ich auch schon mit den ganzen Antworten anfangen sollen?
„Ich nahm die Dinge, wie sie waren und stellte nicht allzu viele Fragen. Was hätte ich auch schon mit den ganzen Antworten anfangen sollen?“
Lektion fürs Leben
Dann kamen die erste Ausbildung, der Zivildienst und die zweite Ausbildung. Ich bewarb mich auf einer Theologischen Fachschule, so hieß damals noch, was heute als Theologisches Seminar bekannt ist, lebte eine Weile im Ausland, das erste Mal in Afrika, und hatte mit Mitte Zwanzig Erfahrungen gesammelt, die ich mir nicht hatte vorstellen können. Das Leben hatte Fahrt aufgenommen, ich sah und erlebte Situationen und Menschen, die mich beeindruckten. Zum Beispiel meine Freunde in Westafrika. Ich weiß noch, wie ich gerade im Land angekommen war und meine ersten Touren in den Straßen der Stadt unternahm. Bissau, die Hauptstadt von Guinea-Bissau, war eine arme Stadt. Mit armen Menschen. In einem armen Land. Und dann kam eine Lektion über Menschen und Würde, die ich nicht mehr vergessen sollte. Eine Missionarin nahm mich mit zum Markt zum Einkaufen und erklärte mir, wie die Dinge hier laufen. Als erstes: Zeit mitnehmen. Zeit zum Reden, Nachfragen, Austauschen, Lachen und einfach da sein. Ach ja. Und Zeit zum Aushandeln des Preises für die Tomaten oder Gurken, die man kaufen will. Mir war nicht wohl dabei, den ohnehin schon sehr geringen Preis noch weiter zu drücken, das schien mir nicht richtig zu sein. Zwar schwamm ich mit umgerechnet 25 Euro Taschengeld im Monat nicht im Geld, aber gemessen an dem, was die Menschen in Bissau hatten, war ich wohlhabend. Also wollte ich nicht handeln. Dann nahm meine Kollegin mich zur Seite und erklärte mir: Detlef, wenn du nicht handelst, kommst du nicht auf die Erlebnisebene der Menschen hier. Es geht nicht ums Geld, es geht darum, sie ernst zu nehmen, sie zu honorieren, ihnen zu zeigen, dass du sie respektierst. Der meist lachende Akt des Feilschens ist Ausdruck für Respekt und Würdigung. Alles andere würde als arrogant und hochnäsig empfunden. Ich lernte schnell. Und hatte plötzlich ein wachsendes Netz an Bekannten auf dem Markt die nach mir riefen, wenn ich kam, die wissen wollten, wie es mir geht, die mich an die Hand nahmen und mir zeigten, was ich suchte. Und hin und wieder schenkten sie mir die ein oder andere Frucht.
„Nichts von dem, was kommen könnte, brauche ich wirklich. Es würde mir gefallen, ja klar, aber ich würde es nicht brauchen.“
Neue Möglichkeiten
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland kam ein neuer Alltag. Arbeit, Weiterbilden, Lernen, Umsetzen, Wachsen. Alles ziemlich normal und vorhersehbar. Heirat, der Wechsel auf eine neue Stelle, Kinder. Irgendwann raus aus der Wohnung und rein in ein Haus. Ich besuchte über 25 Länder, lernte unglaublich viele Menschen kennen, die mir von ihrem Leben und ihren Sorgen erzählten, manche auch von ihren Hoffnungen. Ich bewegte mich beruflich unter wohlhabenden Menschen und brachte deren Geld zu armen Menschen. Ich hatte Ideale, Überzeugungen und Ziele. Ich wollte etwas im Leben erreichen. Wenn schon nicht für mich, dann für sie. Dann die berufliche Umorientierung, kompletter Neustart in nicht einfachen Zeiten. Neuer Fokus, neue Menschen, neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten, neue Wünsche und Träume. Zeit für meine Bucket list.
Was fehlt mir noch?
So eine Liste machen Menschen, um festzuhalten, was sie dem Leben noch abverlangen wollen. Einmal mit dem Fallschirm springen! Einmal in die Rocky Mountains! Einmal noch dies oder das – jeder hat so seine eigenen Vorstellungen, was er oder sie noch machen möchte, damit das Leben zur vollen Erfüllung kommt. Das Ganze ist ein bisschen divergent, finde ich, ist es doch sehr gut, wenn man sich seine Wünsche eingesteht und sie artikuliert. Auf der anderen Seite ist es wohl schwierig, wenn Punkte auf der Bucket list darüber entscheiden, welche Qualität das Leben hat. Was würde ich denn auf meine setzen, wenn ich eine machen würde? Was fehlt noch? Was habe ich noch nicht erlebt und will es unbedingt? Damit bin ich wieder bei meiner anfänglichen Frage: Worauf habe noch Hunger? Wenn jemand die Fotogalerie auf meinem Smartphone durchschauen würde, dann würde er immer wieder dasselbe Motiv finden: Den Blick vom Balkon unseres Hauses ins Tal. Immer wieder. Morgens, abends, mit Blumen, ohne Blumen, im Frühling, bei Sonnenuntergang. Immer wieder dasselbe. Und diese Bilder beschreiben mein „genug Leben“ außerordentlich gut. Ich genieße so sehr, was ich habe, dass mir bewusst ist: Alles andere, was ich noch bekommen, sehen und erleben könnte, wäre maximal ein nettes Add on. Eine Zugabe. Aber nichts von dem, was kommen könnte, brauche ich wirklich. Es würde mir gefallen, ja klar, ich würde es vermutlich genießen, ja klar. Aber ich würde es nicht brauchen. Ich hab nämlich genug gelebt.
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