Schach auf dem Müllberg

Kolumne

Wenn Dinge oder Situationen sich so diametral gegenüberstehen wie in der Geschichte, die Uwe Heimowski erzählt, dann setzt das menschliche Hirn schon gern mal aus. Wie um alles auf der Welt passt das zusammen? Wer ernsthaft um eine Antwort ringt, begegnet seiner Begrenztheit. Manches will und wird sich nicht auflösen, es bleibt einfach so stehen und wirkt.

Wie viel ist genug zum Leben? Und: Wie viel ist genug zum Überleben? Das ist eine globale Frage. Die Weltgemeinschaft hat daher die Jahrtausendwende zum Anlass genommen und ambitionierte Vorhaben formuliert: die sogenannten Milleniumsziele. Eine Herkulesaufgabe. Bis 2015 sollte, so das erste Ziel, der „Anteil der Weltbevölkerung, die unter extremer Armut oder Hunger leiden, halbiert“ werden. Tatsächlich gab es eine deutliche Verbesserung: Von knapp einer Milliarde Menschen, die noch im Jahr 1990 an Unterernährung litten, sank die Zahl bis 2015 auf 780 Millionen, obwohl die Menschheit im gleichen Zeitraum insgesamt rapide gewachsen ist, von rund 5,3 auf 7,3 Milliarden. Trotzdem bleibt es natürlich erschütternd, wenn so viele Menschen – zehnmal mehr, als Deutschland Einwohner hat – Hunger leiden.

Mehr als Brot

Darum hat die UNO 2015 die „Nachhaltigkeitsziele“ formuliert und für die nächsten 15 Jahre konkrete Maßnahmen beschlossen. Die neuen Ziele sind noch deutlicher, sie beginnen mit: „1. Armut beenden, 2. Ernährung sichern“. Es begann vielversprechend. Doch dann kam erst die Coronakrise, und danach brach der Krieg in der Ukraine aus, der „Kornkammer der Welt“ – und die Zahlen der Hungernden stiegen erneut massiv an. Laut dem Welternährungsprogramm (World Food Program, WFP) der Vereinten Nationen waren im Februar 2024 diese neun Länder am stärksten von Hungersnöten betroffen: Somalia, Afghanistan, Syrien, Haiti, Guinea, Jemen, Sierra Leone, Nigeria und Liberia. Und nicht nur der Hunger bedroht das Leben, sondern auch Krankheiten, schlechte Wasserversorgung und natürlich Kriege. Wir müssen weiterhin alles tun, damit möglichst alle Menschen genug zum Leben haben. Regierungen und Hilfswerke arbeiten dafür – und sie benötigen die Unterstützung von denen, die auf der reichen Seite der Welt leben dürfen. Doch die Ärmsten der Armen brauchen mehr als humanitäre Hilfe. Nicht umsonst sagt Jesus: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt“ (Matthäus 4,4). Und wer Jesus kennt, der Kranke geheilt und sich um das leibliche Wohl der Menschen gesorgt hat, der weiß, dass das nicht zynisch von oben herab formuliert ist. Vielmehr spricht Jesus ein elementares Grundbedürfnis der Menschen an, ohne dessen Befriedigung wir Menschen nicht leben können. Wir brauchen das Gefühl, von Gott angesprochen zu sein. Als seine Ebenbilder erleben wir unsere eigene Würde. Und wer diese Würde erkennt, der kann auch äußeren Widerständen trotzen.

Die Frau auf dem Berg

Mich hat ein Erlebnis berührt, das zwar schon einige Jahre zurückliegt, aber mich nicht loslässt: Sie sitzt auf einem Berg aus Müll. Es stinkt. Eine ätzende, undefinierbare Melange von Ausdünstungen. Rauchdurchsetzte Luft beißt giftig in die Augen und die Lungen. Angesengte Plastiksäcke und Papierstapel schwelen vor sich hin. Und mittendrin sitzt sie. Dem Anschein nach eine alte Frau – obwohl sie vielleicht erst fünfzig sein mag. Die Haare trägt sie unter einem Kopftuch. Den Leib hat sie in zerrissene, vor Dreck starrende Pullover gehüllt, die sie in mehreren Schichten übereinander trägt. Die stämmigen Beine, die von dicken Verbänden umwickelt sind und deren Füße in Plastiklatschen stecken, lugen unter verfilzten Wollröcken hervor. „Rattenbisse“, flüstert meine Begleiterin mir zu und zeigt auf die Binden, „das kommt hier leider dauernd vor, oft entzünden sich die Wunden. Wir desinfizieren sie und bringen Verbandszeug mit.“ Zweimal in der Woche besucht ein Team der Heilsarmee die Menschen auf dem Müllberg, vor dem wir stehen. An einem Tag Mitte der 1990er Jahre durfte ich sie begleiten. Ich war als Referent zum Thema „Christliches Menschenbild“ nach Klaipeda eingeladen, vorher hospitierte ich einen Tag lang bei der Arbeit der Heilsarmee.

„Wir brauchen das Gefühl, von Gott angesprochen zu sein. Als seine Ebenbilder erleben wir unsere eigene Würde“

Vor den Toren der baltischen Stadt an der Ostsee, unweit der idyllischen kurischen Nehrung, türmt sich dieser Müllberg auf. Provisorische Blechhütten sind um den Abfall herum errichtet. Mehrere Dutzend Menschen leben hier. Ich fühle mich, als sei ich in Kalkutta, Indien, gelandet und nicht in Klaipeda, Litauen, damals schon Mitglied der Europäischen Union. Die Menschen ernähren sich von Essensresten und Abfällen, die sie aus dem Müll klauben, und von den Erlösen für die Wertstoffe, die sie in großen Plastikbeuteln sammeln. Mächtige Müllautos kippen ihren Dreck auf den Berg, Planierraupen wälzen heran, um die neue Lage Unrat zu verdichten. Die Müllbergbewohner stürzen herzu und sammeln alles Verwertbare aus dem Weggeworfenen heraus. Mitunter gerät man dabei auch unter die Raupenketten, schwerste Verletzungen sind keine Seltenheit.

„Ist es nicht schön, dass ich von der Arbeit meiner Hände leben kann?“

Gott sei Dank!

Die alte Frau sitzt auf einem Plastikstuhl, vor ihr steht ein Hocker. Darauf liegt ein Schachbrett. Ihr gegenüber sitzt ein alter Mann, sie sind in ihr Spiel vertieft. Als sie meine Begleiterin und mich bemerken, begrüßen sie uns herzlich. Mit Übersetzung ergibt sich ein kurzes Gespräch. Die Frau fragt mich nach Deutschland, wir reden ein bisschen übers Schachspiel. Nach einer Weile fasse ich Mut und frage sie, wie sie eigentlich hier auf dem Müllberg leben könne. Mich schockieren die Umstände, mir geht das alles unter die Haut. Die Frau runzelt die Stirn und strahlt mich an, ein breites Lächeln aus schwarzen Zahnstummeln. „Ist es nicht schön, dass ich von der Arbeit meiner Hände leben kann?“, erklärt sie mir voller Stolz. „Viele Menschen brauchen Unterstützung vom Staat, aber wir hier auf dem Berg, wir können für uns selbst sorgen. Gott sei Dank.“ Für einen Moment bin ich sprachlos. Perplex. Was geschieht hier gerade? Meine Eindrücke wollen nicht zusammenpassen. Ich rieche den beißenden Gestank. Ich sehe die Blechbuden, den Dreck, die Rattenbisse, die Infektionen. Und die Frau? Sie ist stolz auf ihre Arbeit, auf ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Sie spielt Schach und versorgt sich selbst. Die Würde des Menschen, lerne ich, ist auch von einer hochgetürmten Müllhalde nicht antastbar.