Ich brauche Sehnsucht
Meditation
Manchmal meint man schnell, dass Menschen mit Sehnsucht und Wünschen zu den Unzufriedenen gehören. Zu denen, die nie genug bekommen können, die nie wirklich ankommen. Auch nicht bei sich selbst. Maren von Guérard sieht das anders und erzählt, warum Sehnsucht für sie keinen Mangel beschreibt, sondern sie am Leben hält.
Weit nach Mitternacht streife ich umher, barfuß an der kühlen Wasserlinie entlang. Das rotgoldene Glimmen der schon vor Stunden untergegangenen Sonne am Horizont zieht mich unwiderstehlich an. Meine Sinne erleben die Natur wie verzaubert. Meine Ohren sind eingestellt auf die Stille, die durch das leise Schmatzen kleiner Wellen noch hervorgehoben wird. Meine Haut wird sanft gestreichelt durch einen Hauch. Meine Nase badet in Aromen von Meersalz, Tang, dem Harz sturmgebückter Kiefern und der langsam verlöschenden Glut des St.Hans-Feuers vom Vorabend. Und meine Augen können sich nicht satt sehen am einzigartigen Licht der dänischen „lyse nætter“, den hellen Nächten. Ich möchte diesen unwiederbringlichen Moment tief ins hungrige Herz pflanzen, damit er Wurzeln schlagen und Erinnerungsblüten in kalten Wintertagen schenken kann.
Das hartnäckige Chaos
Ja, ich bin meiner Sehnsucht gefolgt. Ich stehe wieder mitten in der Nacht an der Küste von Lønstrup im Norden Dänemarks, 1200 km von zuhause. Herrlich! Und der Herr hat es möglich gemacht. Denn noch vor wenigen Monaten war das für mich undenkbar. Nach einem körperlich und seelisch herausforderndem Umzug, hartnäckigem Restchaos in der neuen Wohnung, familiären und alltäglichen Verpflichtungen trotz einer tiefen Erschöpfung war es mein Ziel, den nächsten Tag, die nächste Woche irgendwie mit den bestehenden Kräften abzuarbeiten. Nicht denken – sondern machen. „Herr, schenke mir Kraft für den heutigen Tag“ war mein spärliches Gebet. Doch dann breitete sich heimlich, still und leise das Unkraut Anhedonie in meinem Lebensgarten aus, genährt von meinem, aus Kindheitstagen verinnerlichtem Lebensmotto „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“. Unkraut hat die starke Tendenz, anderes Leben zu verdrängen, zu überwuchern und Ressourcen für sich zu beanspruchen. Und so geriet meine Lebenspflanze immer mehr unter das Unkraut.
Die hausgemachten Zäune
Schöne Erlebnisse, Veranstaltungen, Dinge, Vergnügungen, Einladungen? Oder gar Träume, Sehnsüchte? Zeit- und Kraftverschwendung. Es gibt doch schließlich wichtigere, dringendere, notwendigere Dinge zu erledigen. Irgendwie redete ich mir ein, ein paar Pflänzchen Anhedonie im Garten wären doch gar nicht so schlimm, im Gegenteil, es kann doch nicht immer alles auf Vergnügen ausgerichtet sein, man wird weiser, ruhiger, abgeklärter. Pippi-Langstrumpf-Denken, aber verkehrt herum. Ganz tief im Inneren rumorte es. Der Heilige Geist flüsterte: Maren, du bist auf dem falschen Weg. Er sprach lauter. Und ich öffnete immer öfter Augen und Ohren. Psalm 31 begegnete mir plötzlich immer wieder. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. Dabei kam mir mein Leben gerade eng und in vorgegebenen Bahnen laufend vor. Und weiter Raum löste in mir eher Beklemmung als Freude aus, war er doch unberechenbar. Ich bat Gott, mir zu helfen. Er ließ mich darüber nachdenken, wie ich für mich „weiten Raum“ überhaupt definiere. Und ich stellte fest, dass meine Gedanken an hausgemachten Zäunen hängen blieben. Was erwartete mich hinter den Zäunen?
„Ganz tief im Inneren rumorte es. Der Heilige Geist flüsterte: Maren, du bist auf dem falschen Weg.“
Die Angst, dass es weh tut
Gibt es noch etwas, nach dem ich mich sehne? Oder nach dem ich mich früher mal gesehnt habe? Sehnsucht – für mich hat der Begriff weniger mit Sucht als mit Suchen zu tun. Liebe, Heimat, Frieden und Sicherheit, Erfüllung und Sinn, Freiheit, Vergangenheit, Veränderung und Abenteuer, Gesundheit und Wohlbefinden, Gemeinschaft – all das hat unmittelbar auch mit Sehnsucht zu tun. Welcher dieser Bereiche spricht mich besonders an? Oder habe ich sogar Angst vor Sehnsucht, weil das Sehnen weh tut? Welche Sehnsucht empfinde ich? Ich war sehr erstaunt darüber, wie schwer diese Frage doch für mich zu beantworten war, immer noch ist und wohl auch bleiben wird. Grundsätzlich würde ich mich als zufriedenen Menschen bezeichnen, das Glas immer halbvoll statt halbleer sehend. Aber genau dieses Gefühl, keinen Mangel zu spüren, kann auch in die verkehrte Richtung führen. In Sattheit, Selbstzufriedenheit, Bewegungslosigkeit. Wenn es mir an Mangelhaftigkeit mangelt, laufe ich Gefahr, selbstoptimiert und eigenmächtig die Welt zu gestalten. Ohne Gott. Dabei hat Gott hat uns mit einer bestimmten Art von Mangelhaftigkeit geschaffen: wir vermissen die Gemeinschaft mit ihm. Ohne Gott sind wir keine vollständigen Menschen. Solange wir nicht zu ihm finden, bleiben Herz und Geist unruhig. Wir entwickeln Sehnsüchte, die uns von ihm wegführen, die ungesund für uns sind. Dabei macht uns die Bindung an Gott frei von anderen Bindungen. Die Sehnsucht nach Gott trägt uns über unsere Zäune hinaus, so dass wir uns nicht abfinden, nicht zufrieden geben mit dem Vorhandenen, sondern neue Wege gehen. Solange die Sehnsucht nach Gott und seinem Wort überwiegt und über die Sattheit siegt, solange unsere Träume über das Endliche hinaus und ins Ewige hinein reichen, solange sind wir in Bewegung.
„Ich brauche Sehnsucht, um mich auf den Weg zu machen, Hunger zu spüren, Ziele zu entwickeln, und nahe zu Gott zu kommen.“
Das stille Aufatmen
Ich brauche Sehnsucht, um mich auf den Weg zu machen, Hunger zu spüren, Ziele zu entwickeln, und nahe zu Gott zu kommen. Und umgekehrt: ich muss nahe zu Gott kommen, um Sehnsucht und Hunger zu entwickeln und um mich auf den Weg machen zu können. In diesem Fall nach Dänemark. Denn Gott kennt mich, weil er mich geschaffen hat. Er kennt mein Herz, meine wirkliche Sehnsucht. Und er tut alles zu seiner Zeit, auf seine Art, um ihr zu begegnen und mir ein Leben in Fülle zu schenken. Ganz individuell. Fülle bedeutete dieses Mal für mich nur Stille, zarte Wellen und helle Nächte an einem einsamen Strand. Dort konnte ich aufatmen, Gottes Nähe genießen und mit ihm über Zäune, weiten Raum und Sehnsucht sprechen. Und ihm zutiefst danken für das Wunder, dass er bewirkt hat, um mich an diesen Ort und ganz nah zu ihm zu bringen. Er kittete eine jahrelang auf Eis gelegene Freundschaft zuhause und ließ ein Netz helfender Hände entstehen, fügte neue Freundschaften im hohen Norden hinzu und versetzte mein Auto in einen guten Zustand für die weite Strecke, so dass ich mich fast zwei Wochen aus dem Alltag komplett zurückziehen und eine wunderbare Zeit in meinem Herzensland haben durfte. Ich kam mit einigen neuen Sehnsüchten nach Hause.
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