Das Leben ist schön!
Persönlich
Klingt das ein wenig nach Charlie Brown und den Peanuts? Macht nichts, es ist ja egal, von wem man die Wahrheit lernt. Und dass es wahr ist, davon ist Sabine Langebach überzeugt. Nicht nur, weil sie es irgendwo gelesen oder gesehen hat, sondern weil sie bei Birte in der Schule war. Wer Birte ist? Nun, lesen Sie weiter und Sie werden es erfahren.
„Das ist ja ein Scheißleben!“ Es braucht einen Moment, bis ich begreife, was der Mann meint, der im Aufzug vor dem Rolli unserer Tochter Birte steht. Erst seine abschätzige Kopfbewegung in Birtes Richtung lässt bei mir den Groschen fallen. ‚Scheißleben? Der meint Birte! Was für eine bodenlose Frechheit!‘, schießt es mir durch den Kopf. Kurz überlege ich, ob ich ihm meine Wut verbal um die Ohren schleudern soll. Dann sage ich doch nur: „Wenn Sie meine Tochter kennen würden, dann wüssten Sie, dass sie voller Lebensfreude ist. Von ‚Scheißleben‘ kann da wirklich nicht die Rede sein.“ Ich bin erstaunt, wie ruhig und sachlich die Worte über meine Lippen kommen. In dem Moment geht die Aufzugtür auf und wir können aussteigen. Jetzt muss ich erstmal tief durchatmen. Ich kann es kaum fassen: Woher nimmt dieser Mann das Recht, in dieser Art über das Leben meiner Tochter zu urteilen?! So etwas Krasses haben wir bisher noch nicht erlebt. Allerdings gab es schon oft Situationen, in denen mitleidige Blicke ähnliche Gedanken vermuten ließen.
Ohne Augen
Birte ist vor sechsundzwanzig Jahren ohne Augen auf die Welt gekommen. Sie kann kurze Strecken mit Unterstützung laufen, dann ruht sie sich wieder im Rolli aus. Blind und im Rollstuhl. Für manchen scheint das absolut schrecklich zu sein. „Die Arme!“ Diese Bemerkung kennen wir nur zu gut. Meist habe ich dann erwidert, dass Birte ganz bestimmt nicht arm ist. Im Gegenteil: Sie ist reich! Sie sieht mit dem Herzen, ist voller Lebensfreude, die sie durch ihre Mimik, Gestik und ihre ganze positive Art an die Umwelt weitergibt. Unser Erlebnis im Aufzug hat mir einmal mehr gezeigt, dass viele ihr eigenes Leben – oder vielleicht auch nur die eigenen Wünsche – als Maßstab dafür nehmen, wie ein erfülltes, glückliches Leben auszusehen hat. Dass Menschen mit Behinderung glücklich und zufrieden sein können, ist für sie unvorstellbar. Das ist ein bekanntes Phänomen, das sich Behindertenparadox nennt. Die Philosophin Barbara Schmitz bringt es in ihrem Essay „Was ist ein lebenswertes Leben? Philosophische und biographische Zugänge“ auf den Punkt: Während die Außensicht ein Leben als leidvoll beurteilt, kann es aus der Innensicht ein erfüllendes, lebenswertes Leben sein. Eigentlich ganz logisch. Kein Außenstehender kann darüber urteilen, ob ein anderer glücklich und zufrieden ist. Die Einschätzung liegt allein bei der Person selbst. Das gilt für jede und jeden. Aber ganz besonders für alle in außergewöhnlichen Lebenssituationen: Menschen mit Behinderungen, mit lebensbedrohlichen Krankheiten, chronisch Erkrankte, Suizidgefährdete und Demente.
In der Vergangenheit
Ich denke an die Mutter einer Freundin, die immer mehr in der Vergangenheit lebte, manchmal auch Halluzinationen hatte und dabei dann große Angst empfand. Die Familie litt sehr unter dem sichtbaren Verfall der Mutter. Die Freundin fragte sich oft, ob das noch ein schönes Leben sei. Es gab aber auch Momente, in denen die fast Neunzigjährige zufrieden wirkte. Zum Beispiel, wenn im Altenheim Gottesdienst gefeiert wurde, sie die alten vertrauten Lieder mitsingen konnte und vor allem, wenn sie gebetet hat. Auch wenn vieles verschüttet war von dem, was sie einst geprägt und ausgemacht hatte: Der christliche Glaube hat ihr in ihren letzten Stunden Hoffnung geschenkt. Kein Außenstehender, noch nicht mal die Kinder, die so eng mit ihrer Mutter verbunden waren, hatten das Recht, darüber zu urteilen, inwiefern die kurzen, guten Momente für sie das Leben lebenswert gemacht haben.
„Was für mich ein erfülltes Leben ist, gilt für mich und nur für mich. Ich kann und darf meine Einschätzung nicht auf andere übertragen.“
Immer dankbar
Die Philosophin Barbara Schmitz ist davon überzeugt, dass gutes Altern mit Haltungen und Lebenseinstellungen zu tun hat. Sie können sogar der Schlüssel zu einem lebenswerten Leben sein, nicht nur im Alter. Das macht sie an diesem Beispiel deutlich: Eine Freundin erzählte mir von ihrem schwer dementen Vater. Als er im Sterben lag, wischte ihm ein Pfleger den Mund aus. Er öffnete die Lippen und sagte als letztes Wort: „Danke.“ Seine Haltung der Dankbarkeit, die ihn als Theologen sein Leben lang geprägt hatte, war auch in der Demenz und im Sterben selbst noch greifbar. Ich habe gelernt: Was für mich ein erfülltes Leben ist, gilt für mich und nur für mich. Ich kann und darf meine Einschätzung nicht auf andere übertragen. Und ich muss auch damit rechnen, dass sich meine Einstellungen und Maßstäbe durch neue Lebensumstände oder Einsichten jederzeit verändern können. Wie bei dem sportlich aktiven Mann um die siebzig. Für ihn stand fest, wenn er mal durch einen Unfall oder eine Krankheit ans Bett gefesselt sein würde und ständig auf Hilfe angewiesen wäre, wäre das für ihn kein Leben mehr. Dann passierte genau das. Ein Unfall kombiniert mit einer Erkrankung. Er lag im künstlichen Koma. Als er langsam wieder zu sich kam, war er zwar nicht glücklich über die Lage, aber er begann sich ins Leben zurückzukämpfen. Heute hat er kaum noch Beeinträchtigungen und sagt: „Gott sei Dank, dass es mir wieder so gut geht!“
Mein Maßstab
Als Christin weiß ich, dass jeder Mensch ein geliebter Gedanke Gottes ist. Das Leben ist ein Geschenk des Schöpfers und das allein gibt jedem Menschen seinen Wert, seine Würde und auch den Sinn, warum es ihn oder sie gibt. Keine Behinderung, keine Krankheit, keine lange oder kurze Lebenszeit, rein gar nichts kann daran etwas ändern. Von daher ist für mich grundsätzlich jedes Leben lebenswert, weil es von Gott gewollt ist. Meine Maßstäbe für ein erfülltes Leben sind eng mit dem biblischen Dreiklang von Glaube, Hoffnung, Liebe verknüpft. Der Glaube an einen liebevollen Vater im Himmel, der es mit mir gut meint, der sich um mich kümmert und für mich sorgt, ist meine Lebensbasis. Die Hoffnung, dass nichts so bleiben muss, wie es ist, und dass mein Leben hier nicht alles ist, trägt mich auch durch schwere Zeiten. Die Liebe von Menschen und vom dreieinigen Gott gibt mir Rückhalt, Kraft und Mut zum Weitermachen und um Neues zu wagen. Zurück zum Erlebnis im Aufzug. Die Wut ist längst verraucht. Mittlerweile bin ich sogar dankbar für diese krasse Situation, weil sie mir deutlich gemacht hat, dass Lebensglück und Zufriedenheit nicht von Dingen abhängen, die man als Außenstehender sehen oder beurteilen kann. Gutes Leben ist so individuell, wie Gott uns geschaffen hat.
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