Das brauch ich alles nicht

Psychologie

Die einen finden das ganz easy: zu sagen, was sie nicht brauchen. Andere brechen sich dabei eher einen ab und verzweifeln schweißgebadet an sich selbst. Und wenn man es umdreht? Also erkennen und formulieren, was man braucht? Dr. Martina Kessler geht dem gewohnt fundiert und differenziert nach und auf den Grund. Und stellt ein paar wesentliche Fragen.

Zwei Wochen war ich dienstlich im tansanischen Busch. Die dort lebende und arbeitende Missionscommunity hatte uns zu einer Schulung eingeladen. Wieder zuhause angekommen, suche ich ein kleines Werkzeug für eine Reparatur. Nun laufe ich durch einen großen deutschen Bau- und Werkzeugmarkt. Erstaunt registriere ich, dass mir das alles viel zu viel ist und ich denke: Brauch ich alles nicht! Ich will nur schnell das Werkzeug finden und umgehend den Markt verlassen. Ich spüre Erleichterung. Was ist mit mir geschehen? Bei einem Gespräch mit Freundinnen geht es um die Armut in der Welt. Sie lebten lange in Ostafrika beziehungsweise Lateinamerika. Wir diskutieren, wägen ab, versuchen genau hinzuschauen. Auf einmal sagt eine der Frauen: Und was ist Armut überhaupt? Hat das etwas mit dem Besitz von Gütern zu tun? Afrikaner halten uns für arme Menschen, weil wir arm an Beziehungen sind! Hat sie wirklich recht? Und einer meiner Söhne erklärte mir vor kurzem, er würde am liebsten in einem Tiny-House wohnen. Aber das wäre jetzt noch nicht möglich, weil seine Familie Raum brauche. Kann das eine Option sein?

Ganz schön komplex

Drei verschiedene Beispiele, und doch haben sie einen gemeinsamen Nenner: Es geht in allen um den Fragenkomplex: Was brauche ich wirklich? Was brauchen Menschen allgemein wirklich? Wenn man voraussetzt, dass die Grundbedürfnisse nach Sauerstoff, Nahrung, Wasser, Schlaf, Kleidung, Wohnung erfüllt sind, was dann? Sicherlich sind die Krankenversorgung und Beziehungen weitere wichtige Faktoren. Wenn man sich darüber hinaus aufmacht, Antworten zu suchen, wird es facettenreich. Manche sprechen von vier Grundbedürfnissen: Lust & Unlust, Bindung, Orientierung & Kontrolle und Selbstwerterhöhung & Selbstwertschutz. Andere schreiben, wichtig seien Sicherheit, Bindung und Autonomie und als kognitives Bedürfnis: das Verlangen nach Wissen, Meinungsbildung und Fortschritt. Also lernen zu können, dabei aber auch geliebt zu werden, sich geborgen und akzeptiert zu fühlen. Oder es werden Bedürfnisse wie Schönheit, Ästhetik, Ordnungen sowie Kunst und Natur aufgezählt.

Je nach dem, wohin man schaut

Wenn man die Bedürfnispyramide nach Maslow zu Grunde legt, strebt der Mensch, sobald eine Bedürfnisgruppe erfüllt ist, nach der nächsten Stufe der Erfüllung. Nach der Bedürfniserfüllung von menschlich Überlebensnotwendigem ist als nächstes das Bedürfnis nach Sicherheit relevant, gefolgt von dem Bedürfnis nach sozialer Sicherheit; darauf folgen individuelle Bedürfnisse und zuletzt das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Aber auch hier bleiben Fragen offen. Abgesehen davon, dass sich die ersten drei Bedürfnisse nicht nacheinander sättigen lassen, sondern parallel erfüllt werden müssen, spiegelt diese Pyramide eher westliche, individualistische Kulturen wider. In kollektivistisch orientierten Gesellschaften sind das Aufgenommen werden in eine Gemeinschaft oder das Verbleiben können in ihr (zum Beispiel in einer Familie oder Gruppe) die Voraussetzungen für Sicherheit und die Befriedigung körperlicher Grundbedürfnisse. Dabei steht das Wohl der Gruppe über dem eigenen, also auch über der eigenen Selbstverwirklichung.

„Einig sind sich die Psychologen darin, dass Menschen, neben den überlebenssichernden Grundbedürfnissen, ein Selbstwertgefühl mit einem positiven Selbstbild brauchen.“

Die Frage nach den Parametern

Nun haben wir viele Antworten, sind aber keinen Schritt weitergekommen! Immer noch stellt sich die Frage: Was brauchen Menschen wirklich? Es sind also andere Parameter notwendig, um diese Frage klären zu können. Einig sind sich die Psychologen darin, dass Menschen, neben den überlebenssichernden Grundbedürfnissen, ein Selbstwertgefühl mit einem positiven Selbstbild brauchen. Alfred Adler (1870–1937), österreichischer Arzt und Tiefenpsychologe, beschrieb dies als zentrales Ziel jedes Menschen. Hinzu komme der Wunsch nach Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben, wo die Achtung der Anderen dem Einzelnen Gewissheit bezüglich seines eigenen Wertes gibt und damit zu Wohlbefinden und Kreativität befähigt. Diese Ergebnisse sind heute auch empirisch gut belegt. Adler zeigt uns auch, was geschieht, wenn das Selbstwertgefühl gelitten hat oder leidet nach psychischen Verletzungen, durch „konstitutionelle Schwäche“ oder das Scheitern an den Herausforderungen des Lebens. Dann kommt es zu einer Unsicherheit im Selbstwertgefühl, also zu einem Minderwertigkeitsgefühl. Um dieses ausgleichen zu können, werden unterschiedliche Menschen unterschiedliche Strategien nutzen.

Überleben im Alltag

Wer eine Antwort auf die Frage: Was brauche ich wirklich? sucht, kann also auch fragen: Was versuche ich womit auszugleichen? Suche ich Sicherheit? Will ich meine Bedeutung unterstreichen? Will ich meinen lädierten Selbstwert erhöhen? Was gibt mir Geborgenheit? Stehen Bequemlichkeit und ein angenehmes Leben im Vordergrund? Welche Angst will ich womit kompensieren? In der Beantwortung dieser eher psychologischen Fragen sind zunächst grundlegende Teilantworten zu finden. Weiter kann man überlegen: Was brauche ich im Alltag, über die überlebensnotwendigen Dinge hinaus, wirklich? Dazu gehören weitere Fragen wie: Was ist verfügbar? Denn „Gesundheit“ scheidet dann schon mal aus. Aber in unserem Kontext gehört ärztliche Versorgung dazu. Welche Ressourcen habe ich und wieviel Energie? Bin ich eher ein Beziehungstyp oder eher sachorientiert? Schaffe ich viel, oder bin ich eher bedächtig und mit wenigem zufrieden? Wovon wird mein Wohlbefinden getragen? Reicht eine angenehm temperierte Umgebung mit lieben Menschen, bin ich lieber im kalten Norden und allein, oder liebe ich die Hitze und Aktion? Sicherlich können da noch viele weitere Antworten gesucht werden.

Sehr individuell und persönlich

Ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, sich die gestellten Fragen aus dem psychologischen Bereich zu beantworten. Gut ist, wenn ich (möglichst) frei davon bin, über Güter oder Reisen mein Inneres zu füllen. Wenn das zur Befriedigung innerer Bedürfnisse eingesetzt würde, wäre das für einen selbst und oft auch für andere ungünstig. Gut ist auch, wenn ich über den Tellerrand deutscher Lebensart schaue und von den Werten anderer Völker lerne. Darüber hinaus sind die Antworten auf: Was brauche ich wirklich? vielfach eine Frage der Persönlichkeit, des Ermessens, des Wohlbefindens und der Kultur, in der wir leben. Die Pauschalantwort entfällt also zugunsten einer individuellen Bestandsaufnahme.