Wirklichkeit ertragen lernen

Psychologie

Das Leben, wie es uns entgegenkommt, kann überwältigend sein: Situationen, die uns überfordern, Menschen, die uns unangenehm sind, Dinge, die uns nicht gefallen. Gibt es das? Eine Toleranz gegenüber dem Leben, wie es wirklich ist? Jörg Berger meint: Ja, und sie hat viele Namen – Achtsamkeit, Akzeptanz, Gelassenheit, Frieden, Gottvertrauen.

Wir brauchen auch eine Portion Intoleranz: „Diese Ungerechtigkeit, diesen Missstand, diese Not ertrage ich nicht. Ich setze mich ein. Ich will etwas ändern.“ Doch Helfer machen eine Erfahrung, die ihnen die Lust am Helfen nimmt: Menschen, denen man helfenwill, sind nicht immer dankbar und machen nicht immer das aus der Hilfe, was man sich vorstellt. Jede Veränderung ist außerdem ein Weg über viele Steine hinweg, die einem Behörden, Quertreiber und unglückliche Ereignisse in den Weg legen. Kaum hat man die Ärmel hochgekrempelt, stößt der Ellenbogen an harte Tatsachen des Lebens. Das ist im eigenen Leben nicht anders als bei unseren Mitmenschen, wenn man etwas ändern will. Mut zur Veränderung ist gut. Wer sich aber an dem aufreibt, was nicht gut ist, verliert die Leidenschaft.

Wieder berührbar werden

Nicht einmal eine Liebesbeziehung kann man leben, ohne ungerecht behandelt oder verletzt zu werden. Auch im besten Job werden wir nicht immer so behandelt, wie wir es verdient hätten. Wir müssen außerdem mit Misserfolgen und Anstrengungen fertigwerden. Das ist selbst in Lebensphasen nicht einfach, in denen uns Krankheit, Unglück und Verluste erspart bleiben.

Nichts liegt näher, als sich gegen das Leben zu wehren. Dann können wir es wenigstens gedanklich kontrollieren, indem wir uns in eine Beobachterposition zurückziehen. Wir fällen Urteile und stecken Menschen in Schubladen, die sie handhabbar machen. Wir wehren uns gegen die Wirklichkeit, indem wir Dinge kritisieren, klagen und Vorwürfe machen. Wir können uns auch in Sicherheit bringen, indem wir uns innerlich distanzieren oder allem aus dem Weg gehen, was uns zu viel werden könnte. Zur Not zeigen wir dem Leben den Stinkefinger, indem wir resignieren: „Ich lehne dich ab, Leben. Bleib mir vom Leib.“

Doch nichts davon ist zu empfehlen, wenn man lieben, Glück empfangen und etwas Gutes beitragen will. Was wäre, wenn wir aufhören würden, gegen das Leben anzukämpfen? Wenn wir unsere Schutzpanzer ablegen und wieder berührbar werden würden, obwohl das Leben so ist, wie es ist?

„Wir fällen Urteile und stecken Menschen in Schubladen, die sie handhabbar machen. Wir wehren uns gegen die Wirklichkeit, indem wir Dinge kritisieren, klagen und Vorwürfe machen.“

Wie man gelassen bleibt

Wenn die wissenschaftliche Psychologie nicht weiterweiß, blickt sie manchmal auf die Religionen: „Wie lösen die das?“ Denn einige spirituelle Aufgaben sind für die Psychotherapie relevant: Wie überwinden Menschen ihr Ego? Oder eben auch: Wie bleiben Menschen angesichts einer schmerzlichen Wirklichkeit gelassen? Aus Sicht der Psychotherapie hat der Buddhismus das Rennen gemacht. Ihm traut man friedvolle Gelassenheit zu. Deshalb werden zunehmend Meditation und Achtsamkeitsübungen in die Psychotherapie integriert. Wie schade!Denn die christliche Tradition hat hier viel zu geben. Sie geht sogar über die friedvolle Gelassenheit hinaus. Wo nur der Kampf etwas ändern könnte, lehrt der Glaube die opferbereite Selbsthingabe – Friede und machtvolle Veränderung fallen hier zusammen. Vermutlichhaben wir als Christen eine wichtige Aufgabe vernachlässigt: Wie befähigen wir Menschen ganz praktisch, in einer oft schmerzhaften Wirklichkeit gelassen zu bleiben und im Gottvertrauen zu ruhen?

Die Wahrnehmung üben

Der Wirklichkeit begegnen wir über unsere Wahrnehmung. Auch in unseren Begegnungen mit Menschen können wir abwesend sein oder „da“, zerstreut sein oder unsere Aufmerksamkeit ganz dem anderen schenken. Das lässt sich üben. Schon wenn wir uns vornehmen, ganz im Augenblick zu sein, werden wir etwas aufmerksamer. Dann fällt uns auch in unserem Lebensstil auf, wo wir uns hetzen lassen und wo wir unsere Aufmerksamkeit mit Reizen überladen.Außerdem kann man sich gezielte Zeiten nehmen, um ganz in der Wahrnehmung zu sein: beim Spaziergang 15 Minuten lang nur die Natur wahrnehmen und von den Gedanken, die unweigerlich kommen, immer wieder zurückgehen zu dem, was man sieht, hört, riecht und tastet. Kontemplativ beten und dabei die Aufmerksamkeit ganz einem Bibeltext schenken, aufmerksam sein, wie Gott einem dabei entgegentritt. Auch vor Achtsamkeitsübungen, die man zum Beispiel im Internet findet, muss man sich als Christ nicht fürchten. Wo ihnen noch etwas buddhistische Weltanschauung anhaftet, wird man sie als Christ mit anderen Zielen gebrauchen. Die Wirklichkeit kann auch überwältigend schön und erfüllend sein. Mehr noch: Gott kommt uns in allem entgegen. Das lohnt den Schmerz, die Traurigkeit und die Angst, die wir auch erfahren. Unnötig sind allerdings Ärger, Auflehnung, Ablehnung und Sorgen. Das wären Zeichen einer „Wirklichkeitsintoleranz“. Was für unsere Beziehungen gilt, gilt auch für unseren Umgang mit allem, was uns täglich im Leben entgegentritt: Unsere Selbstmechanismen machen oft mehr Probleme als das, wovor wir uns schützen wollen. 

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