Wenn niemand dich will
Leitartikel
Heimatlos zu sein, ist eine echte Tragödie, und sie betrifft nicht nur Migranten, sondern auch solche, die nie ihren Ort verlassen haben. Dann nämlich, wenn man Menschen um sich herum hat, die einen ablehnen. Die einen nicht wollen. Die einem das Gefühl geben, nicht dazuzugehören. Weil man anders aussieht, fühlt oder glaubt. Detlef Eigenbrodt über den Stachel der Intoleranz im Alltag.
Es ist gerade mal ein paar Wochen her, dass ich zu einem Termin in North Carolina, USA, war. Wie sehr mich die Rückreise umtreiben würde, konnte ich vorher nicht ahnen, aber sie warf mich wirklich aus dem Konzept. Zunächst bekam ich bereits auf dem Weg zum ersten Flugplatz knapp zwei Stunden vor dem Abflug die Info, dass dieser und auch der Anschlussflug annulliert wurden und ich automatisch auf eine andere Verbindung umgebucht worden sei. 15 Stunden später. Beide Flüge gingen in einem großen Verbund, aber mit zwei verschiedenen Airlines. Nennen wir sie der Einfachheit halber mal A und B. Der Hinweis, dass ich nichts weiter tun müsse, erübrigte sich im Grunde auch, denn ich konnte gar nichts tun. Außer warten eben, die entsprechende App ließ keine Aktionen zu. Am nächsten Tag war ich dann pünktlich beim Check-in und guter Dinge, dass nun alles nach Plan laufen würde. Die böse Verzögerung, und damit auch das Aus für den Geburtstagsbesuch bei meiner 81-jährigen Mutter, hatte ich geschluckt. Schade eigentlich …
Hin und her
Nachdem mich dann die erste Maschine der Airline A nach Washington gebracht hatte und ich der Aufforderung folgte, mich am Gate für meinen Anschlussflug mit Airline B zu melden, war ich überrascht. Ich wollte meinen Boarding Pass abholen und bekam die Auskunft, mein Name stehe wohl auf der Liste, aber das Ticket sei nicht im System, ich müsse zu Airline A zurückgehen, um das zu klären. Nun, Washington ist kein kleiner Flughafen, weshalb das einen Weg von 15 bis 20 Minuten zu Fuß und mit dem Shuttle bedeutet. Aber okay. Ich hatte ja noch Zeit. Am Serviceschalter von Airline A standen allerdings schon rund 50 verzweifelte Artgenossen, und es bewegte sich kaum etwas. Freundlich genug konnte ich einer zuvorkommenden Mitarbeiterin erklären, dass ich eigentlich nur einen kurzen Klick auf dem bereits vorhandenen E-Ticket bräuchte und mein Fall sei gelöst. Also nahm sie mich mit und stellte fest: Es gab keinen Fehler mit dem Ticket, alles war in Ordnung, ich solle nur guter Dinge zurück zu Airline B gehen, dort werde sich der Fehler sicher klären lassen. Sollte das wider Erwarten nicht der Fall sein, solle ich direkt zu ihr zurückkommen, mich nicht in die Schlange stellen, sondern umgehend zu ihrem Counter kommen. Aber das würde nicht nötig sein, da war sie sicher.
„Am Serviceschalter von Airline A standen allerdings schon rund 50 verzweifelte Artgenossen, und es bewegte sich kaum etwas.“
Verzweifelt und wütend
Nun. Sie war im Irrtum. Wieder bei Airline B angekommen, wurde mir erneut gesagt, es gäbe kein Ticket, nichts wäre in Ordnung, der Flug sei eh überbucht, und die Dame bei Airline A hätte sicher keine Ahnung von dem, was sie tue. Airlines seien manchmal einfach nicht gut zu den Passagieren und würden alles Mögliche erzählen, nur um sie loszuwerden. Auf meine sanfte Frage, ob das auch für ihre eigene Airline gelte, gab sie mir keine Antwort, sie müsse sich dringend um andere Dinge kümmern. Mittlerweile war ich schon leicht sauer und auch ein wenig verzweifelt. Immerhin gab mir das Angebot der Mitarbeiterin von Airline A, mich auf einen ihrer Flüge zu buchen, ein bisschen das Gefühl, „gut aufgehoben zu sein“.
Vertrau mir
Als ich dann wieder vor ihr stand, mittlerweile war es schon knapp vor meiner geplanten Abflugzeit, konnte sie es nicht fassen, dass ich schon wieder da war. Beherzt griff Purie – so hieß die wirklich hilfsbereite Seele – zum Telefon und rief den Manager on Duty von Airline B an, um sich nach meiner Sache zu erkundigen. Und, naja, sie kratzte ihm schon auch ein bisschen den Lack ab, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bevor Purie auflegte, fragte sie nach dem Namen des Managers und lächelte mich siegesgewiss an: „Du kannst wieder rübergehen. Alles ist in Ordnung. Wir beide sehen uns heute nicht wieder.“ Auf meinen verzweifelten Blick meinte sie nur: „Vertrau mir, es ist gut!“ Also machte ich mich zum fünften Mal auf den Weg zwischen A und B und kam an, als das Boarding schon in vollem Gange war. Die Mitarbeiterin, die mich dort mehrfach abgewiesen hatte, war verschwunden. Dafür erwartete mich ein Mann, Octavio, der Manager – der, mit dem Purie eben noch telefoniert hatte, wie sich rasch rausstellte. Der schaute mich entschuldigend an, gab mir meinen Boarding Pass und sagte: „Bitte, Herr Eigenbrodt, Sie dürfen sofort an Bord gehen, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug."
„Während ich so in meinem Sitz kauerte und meine Emotionen wieder einfing, fragte ich mich, wie es wohl Menschen gehen mag, die tatsächlich niemand will.“
Das war knapp
Sprichwörtlich in letzter Minute nahm ich meinen Sitz ein und fiel erst mal in mich zusammen. Ich hatte gar keine Gelegenheit mehr gehabt, meine Familie und Freunde zu informieren, dass ich jetzt dann doch noch in die Luft gehen würde. Als mein dänischer Sitznachbar mich freundlich anlächelte und fragte, ob ich okay sei, schossen mir plötzlich und unerwartet Tränen in die Augen. „Ich brauch mal eben zehn Minuten“, bat ich ihn, „dann bin ich wieder in Form.“ Heulsuse? Ne, eigentlich gar nicht so. Aber irgendwie war ich wohl durch.
Während ich so in meinem Sitz kauerte und meine Emotionen wieder einfing, fragte ich mich, wie es wohl Menschen gehen mag, die tatsächlich niemand will. Für die sich niemand zuständig fühlt. Für die es um weit mehr geht als um einen Anschlussflug und die keine Purie haben, die sich für ihre Sache starkmacht. Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, abgewiesen und nicht im System toleriert werden. Deren Namen zwar vielleicht irgendwo aufgeschrieben sind, aber deren „Tickets“ nicht funktionieren. Es gibt ja leider viel zu viele von ihnen.
„Es reicht, wenn wir das Fenster zur Straße aufmachen und uns dort umblicken. Schauen wir hin, dann sehen wir sie.“
Es ist an mir
Menschen, die durchs soziale Netz fallen. Im Englischen nennen wir das „underprivileged“, unterprivilegiert. Sozial schwach angebunden, finanziell schlecht aufgestellt, kulturell kaum berücksichtigt und im Großen und Ganzen eher neben allen anderen stehend. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer südafrikanischen Freundin indischer Herkunft, die mir von der Zeit der Apartheid erzählte: „Weißt du, Detlef, das Schlimmste war, wenn ich mit den Kindern vor einem mit Maschendraht eingezäunten Spielplatz stand, an dem ein Schild mit der Aufschrift ‚Nur für Weiße‘ hing und den meine Kleinen bei Strafe nicht benutzen durften.“ Aber wir müssen gar nicht so weit gehen, gar nicht in andere Länder oder Kulturen schauen. Es reicht, wenn wir das Fenster zur Straße aufmachen und uns dort umblicken. Schauen wir hin, dann sehen wir sie. Die, die keiner will. Wie die Familie, die kürzlich in das Haus einer verstorbenen alten Dame in meiner Straße einzog. Als eine Nachbarin bei mir an der Tür stand und mich fragte, ob ich das auch so schlimm fände, Flüchtlinge in diesem schönen Haus, direkt in unserer Straße, da sei es doch mit der Ruhe aus und das Garagentor solle ich auch besser verschließen – da musste ich schlucken. Sind wir wirklich so, in unserer Straße? Wollen wir die nicht? Wie schaut es aus mit meiner, mit unserer Toleranz? Das Gespräch mit der Nachbarin war erstaunlich kurz und mein Sohn, der im Flur auf mich wartete, meinte danach: „Na, Papa, da hat sie aber nicht bei dir landen können, was?“ Nein, konnte sie nicht. Aber ich will sie mit ihrer Position ebenso tolerieren, wie ich die Menschen willkommen heiße, die gerade zu uns gezogen sind. Und beide sollen hören dürfen, was ich denke. Keiner von ihnen, und auch niemand anders, soll zwischen A und B aufgerieben werden oder verloren gehen. Und es ist an mir, meinen Teil dafür zu tun.
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