Wenn Nettsein nicht reicht
Meinung
Das ist manchmal wie mit den guten Vorsätzen zum neuen Jahr. Man nimmt sich etwas vor und will es auch wirklich umsetzen, stellt aber schon nach Kurzem ernüchtert fest, dass man es nicht getan hat. Simon Wünch schreibt über Berufung, Toleranz und Liebe. Und er meint, es reicht nicht aus, einfach nur nett zu sein.
Wir leben aktuell in sehr spannenden – man könnte auch sagen: sehr herausfordernden – Zeiten! Neben den verschiedenen faktischen Krisen dieser Tage, wie dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, steigender Inflation und wirtschaftlich schleichender Rezession, bewegen uns als Gesellschaft, und somit auch uns als Christen innerhalb dieser Gesellschaft, eine ganze Reihe von teils sehr kontrovers diskutierten Themen. Homosexualität und der rechte Umgang mit der gesamten LGBTQ+-Bewegung, links- und rechtspopulistische Ansichten, teils fanatisch wirkende Klima-Aktivisten oder – es ist noch gar nicht so lange her – der richtige Umgang mit der Coronapandemie und den damit einhergehenden Beschränkungen und Impfempfehlungen. All diese Themen und noch weitere beschäftigen uns als Gesellschaft und sind längst auch in unseren Gemeinden und Kleingruppen angekommen.
Richtig verstanden
Gesellschaftlich wird hier die Toleranz als heiliger Gral der Glückseligkeit aller zwischenmenschlichen Beziehungen angesehen. Wenn wir nur alle richtig tolerant wären, hätten wir keine Probleme mehr und könnten in einer freien und offenen Gesellschaft fröhlich miteinander auskommen – so der Tenor. Gemeint wird hierbei die Art von Toleranz, die alle Ansichten und Meinungen als gleichermaßen wahr erachtet und widerspruchslos hinnimmt. Im eigentlichen Wortsinn zielt Toleranz jedoch auf ein Erdulden abweichender Meinungen und Ansichten ab, ohne alles als gleichermaßen richtig oder wahr anzuerkennen. Doch nimmt Toleranz den anderen nicht als Person in den Blick oder bringt ihm Annahme und Wertschätzung entgegen. Und somit führt auch „richtig“ verstandene Toleranz in ihrer ursprünglichen Bedeutung letzten Endes lediglich zu einer gewissen Form der Gleichgültigkeit. Ich meine, wir Christen sind zu mehr aufgerufen als nur zu Toleranz – untereinander und auch in unserem Umgang mit der Gesellschaft, in der wir leben. „Ertragt einander voller Liebe“, schreibt der Apostel Paulus der Gemeinde in Ephesus in Kapitel 4, Vers 2.
Nicht einfach nur nett
Nun ist mit Liebe an dieser Stelle zunächst weder ein bestimmtes positives Gefühl noch ein besonders netter Umgang mit anderen Menschen und deren aus unserer Sicht vielleicht etwas sonderbaren oder falschen Meinungen und Ansichten gemeint. Nein, das Wort, das Paulus an dieser Stelle im griechischen Text benutzt, meint die Art von Liebe, mit der Gott selbst uns durch seinen Sohn Jesus Christus begegnet ist. Gemeint ist die göttliche Liebe (Agape), die den Sohn des allmächtigen, heiligen Gottes als Konsequenz unseres Fehlverhaltens und unserer Schuld ans Kreuz genagelt hat. Eine Liebe, die nicht sich selbst, sondern immer erst den anderen in den Blick nimmt und nicht das Beste für sich selbst, sondern zuerst für den Nächsten sucht. Paulus spricht hier von der Art und Weise, mit der Gott selbst einem jeden von uns begegnet – voller Annahme und Hingabe. Diese Art von Liebe soll also prägend sein für unseren Umgang miteinander in unseren Gemeinden und schlussendlich auch mit den Menschen, denen wir in unserem alltäglichen Leben begegnen. Und das nicht nur dann, wenn es uns leichtfällt, weil uns ohnehin viele Gemeinsamkeiten verbinden. Sondern auch dann, wenn wir durch unterschiedliche Ansichten und Lebensweisen mitunter sehr herausgefordert werden.
„Und dennoch merke ich, wie mich diese Aufforderung zur Liebe auch immer wieder an meine Grenzen bringt und teils überfordert.“
Beim Thema bleiben
Grundsätzlich halte ich mich für einen recht ausgeglichenen und friedfertigen Menschen. Und dennoch merke ich, wie mich diese Aufforderung zur Liebe auch immer wieder an meine Grenzen bringt und teils überfordert. Da gibt es dieses oder jenes Verhalten von Menschen in der Gemeinde oder bestimmte Ansichten und Meinungen, die vielleicht auch gesellschaftlich zum Teil sehr lautstark vertreten werden, mit denen ich einfach nicht zusammenfinden kann (oder will?). Hier merke ich, wie Gespräche und Diskussionen Spannungsfelder aufzeigen, die mitunter nur schwer auszuhalten sind. An diesen Punkten hilft es mir zum einen, mich selbst an einige Grundsätze im Hinblick auf den Umgang mit unterschiedlichen Ansichten und Meinungen zu erinnern und immer wieder neu zu versuchen, sachlich bei dem eigentlichen Thema zu bleiben. Eben nicht negativ oder urteilend über mein Gegenüber zu denken. Hier ist zunächst ein demütiges Eingeständnis gefragt – demütig in dem Sinne, dass ich mir selbst eingestehe, dass ich nicht alles weiß, dass ich meine eigenen Motive prüfen muss und dass ich mir bewusst mache, dass viele Probleme und Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, nicht mit einer einfachen Antwort gelöst werden können.
Dem Beispiel folgen
Zum anderen erlebe ich es als sehr hilfreich, mich eng an dem Beispiel zu orientieren, das Jesus uns mit seinem Leben gegeben hat. Hier finde ich auf der einen Seite Beispiele für eine angemessene Nachgiebigkeit – wenn ich mir beispielsweise seinen Umgang mit gesellschaftlichen Normen und Konventionen (vgl. Matthäus 11,19) oder nebensächlichen Ungerechtigkeiten (vgl. Matthäus 17,24–27) vor Augen führe. Auf der anderen Seite finde ich aber auch Beispiele für eine „klare Kante“ und das Vertreten der grundsätzlichen Wahrheit, wenn es um ihn und seine Person, nämlich als Sohn Gottes und einzigen Weg zum Vater, und das Kritisieren selbstgerechter, religiöser Haltungen geht (vgl. Lukas 11,23 und Markus 7,6–8). Dem Beispiel, das Jesus uns gegeben hat, ähnlicher zu werden, ist sicher nichts, was wir morgen oder übermorgen als erledigt abhaken können. Hier werden wir unser Leben lang Lernende bleiben und sowohl Erfolge als auch Misserfolge erleben. Und dennoch sind wir dazu aufgerufen, ein „Leben zu führen, das unserer (eurer) Berufung würdig ist, denn ihr seid ja von Gott berufen worden.“ (Epheser 4,1) Weil ich selbst diese Liebe und Annahme von Gott erfahren habe und mein Angewiesensein darauf in meinem täglichen Leben immer wieder neu erkenne, will ich diesem Beispiel folgen und jeden Tag immer wieder neu mit genau dieser Einstellung den Menschen in meinem Umfeld begegnen – eben, weil ich hierzu berufen bin.
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